Zwischen Finanzbetrug, Verbandsintrigen und Lebensmittelvergiftung: eine Posse aus Italiens Serie B


Gianluca Vialli würde sich im Grabe umdrehen. In den frühen 1990er Jahren prägte er die goldene Ära von Sampdoria Genua, mit einem Scudetto und dem Gewinn des Cups der Pokalsieger. Mit dem späteren «commissario tecnico» Roberto Mancini bildete er ein Angriffsduo der Extraklasse. Vor zwei Jahren starb er an einer Krebserkrankung, zu früh, ein grosser Verlust für den italienischen Fussball. Das bewahrte ihn aber auch davor, Augenzeuge des Verfalls seines Herzensklubs zu werden.
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Fast die gesamte vergangene Spielzeit verbrachte die 1946 gegründete Unione Calcio Sampdoria in der Abstiegszone der Serie B. Vier Trainer und 41 (!) Neuzugänge in nur einer Saison konnten die Misere nicht verhindern. Die Sportzeitung «La Gazzetta dello Sport» bilanzierte zum Abschluss der regulären Spielzeit: «Alles ging schief, auf wie neben dem Platz, Entscheidungen, Spieler, Strategien, Trainer.» Absurdes Detail: Gleich zehn Keeper hatten die vier verschiedenen Trainer zwischen die Pfosten und auf die Bank berufen.
Nach den Regeln des Sports war Sampdoria Genua in die dritte Liga abgestiegen, zum ersten Mal in der Geschichte und nach 66 zum Teil glorreichen Spielzeiten in der Serie A und 13 in der Serie B. Die Equipe war über ein trostloses 0:0 bei Juve Stabia nicht hinausgekommen, die Spieler weinten auf dem Platz. Aller Glanz der Vergangenheit fiel vom Trainer Alberico Evani ab, der früher vier Jahre gemeinsam mit Mancini im Trikot von Sampdoria gespielt hatte und später Trainerkollege im Stab der Nationalmannschaft war. In Genua zündeten die Fans des Stadtrivalen Genoa Cricket and Football Club die Freudenböller und trugen symbolisch Sampdoria zu Grabe.
Dann aber ereignete sich die Posse von Brescia. Auch Brescia Calcio ist ein Traditionsverein: 1911 gegründet, Rekordhalter der Serie B mit insgesamt 66 Teilnahmen. Grosse Spieler streiften sich die blau-weissen Trikots über, etwa Roberto Baggio und Andrea Pirlo. Pirlo wurde in der Jugend von Brescia ausgebildet, spielte dort vier Jahre als Profi – und war zu Beginn der letzten Saison erfolgloser Trainer bei Sampdoria.
Brescia, das 2020 zuletzt in der Serie A war, spielte eine ähnlich schwache Saison wie Sampdoria, rettete sich sportlich aber noch auf einen Nichtabstiegsplatz. Dann jedoch stellte der Ligaverband der Serie B fest, dass Brescias Patron Massimo Cellino Steuern und Gebühren nicht bezahlt hatte. Cellino erklärte, einem Betrug zum Opfer gefallen zu sein. Der Fall ist undurchsichtig. Fakt ist, dass Staatsanwälte aus Brescia gegen die Firma Gruppo Alfieri wegen nicht gedeckter Kredite ermitteln. Anfang Juni fanden deshalb Razzien in mehreren italienischen Städten statt. Gruppo Alfieri sollte im Auftrag Cellinos die Zahlungen an den Verband abwickeln, war aber offenbar knapp bei Kasse. Cellino, von den Staatsanwälten nicht als Geschädigter, sondern als Tatverdächtiger geführt, hat den Verein mittlerweile aufgegeben. Die Fans wünschten ihn zum Teufel. Auf Spruchbannern wurden der Fussballverband FIGC und die Liga zur «ersten Mafia in Italien» erklärt.
Denn die Funktionäre hatten Brescia jene vier Punkte abgezogen, die den lombardischen Verein plötzlich zum Direktabsteiger machten – und Sampdoria zur unverhofften Chance auf die Relegationsmatches verhalfen.
Massive Kritik an Verband und LigaCellino warf der FIGC vor, «über Nacht einen Plan zur Rettung von Sampdoria» umgesetzt zu haben. In diesem Punkt immerhin stimmen ihm die organisierten Fans von Brescia und Sampdoria zu. Sie veröffentlichten ein gemeinsames Communiqué, in dem sie dem Verband Versagen bei der Kontrolle der Klubs, Missachtung von Werten und Traditionen sowie ein Agieren gegen die Interessen der Basis vorwerfen.
Derzeit wird Brescias Konkursmasse von der AC Monza aufgekauft – dem Spielzeug, das sich Silvio Berlusconi nach seinem Ausstieg bei der AC Milan zulegte und das seine Erben jetzt loswerden wollen. Auch diese Episode zeigt: Der Calcio ist eine unendliche Seifenoper.
Noch ein weiterer Traditionsverein droht im Abwärtsstrudel von Genua und Brescia unterzugehen. Die Unione Sportiva Salernitana hatte unmittelbar nach dem Ende der regulären Saison noch die Chance, über die Relegation gegen Frosinone die Klasse zu halten. Wegen der Querelen in Brescia wurden die Play-outs aber ausgesetzt und auf den jetzigen Zeitpunkt, einen Monat später also, verlegt.
Das erzürnte den Klub. Denn nach den Regeln hätten die Play-outs zum festgesetzten Termin gespielt werden sollen. Bei einem Lizenzverlust eines Serie-B-Konkurrenten wäre sogar der Unterlegene aus der Relegation gerettet, in diesem Falle Frosinone oder Salernitana. Sampdoria indes wäre abgestiegen. Salernitana reichte Protest ein. Vergeblich. Teile des Fanlagers riefen unter dem Motto «Salerno beugt sich nicht» zum Boykott der Matches auf. Beim Hinspiel in Genua waren denn auch mehr Gästefans bei einem lautstarken Protest ausserhalb des Stadions versammelt als innerhalb.
Wie fit sind die erkrankten Spieler von Salernitana?Wie viele Fans am Sonntag dem Protestaufruf für den Rückmatch folgen werden, ist eine der spannenderen Fragen des Wochenendes. Sportlich sind die Verhältnisse nach dem 2:0-Erfolg von Sampdoria im Hinspiel recht klar.
Salernitana muss auch noch verkraften, dass gleich 21 Personen, unter ihnen Trainer und zahlreiche Spieler, mit einer Lebensmittelvergiftung aus Genua abreisten. Deshalb wurde das Rückspiel vom Freitag auf den Sonntag verlegt.
Schadlos kommt niemand aus der Chaossituation heraus: Selbst wenn Sampdoria sich über die Relegation rettet, so bleibt der Makel, vom Verband begünstigt worden zu sein. Salernitana muss verkraften, dass Teile des Fanlagers die eigene Equipe im Moment der grössten Not nicht unterstützen. Brescia muss ohnehin von ganz unten wieder anfangen. Und an den Verbandsverantwortlichen bleibt der Vorwurf haften, die Regeln gebeugt zu haben.
nzz.ch