Seit Fabian Cancellara gewann kein Schweizer mehr die Tour de Suisse – die Sehnsucht nach einem neuen Helden wächst


Alessandro Della Bella / Keystone
Fabian Cancellara erfüllt die Verpflichtung, Fabian Cancellara zu sein, an diesem Dienstagmorgen in Perfektion. Augenblicklich bildet sich eine Menschentraube um ihn, als der 2016 zurückgetretene Veloheld vor der dritten Etappe der Tour de Suisse in Aarau aus einem Bus steigt. Und jeder, vom Kind im Trikot bis zum Polizisten im Dienst, erhält das erhoffte Selfie mit dem doppelten Olympiasieger, der nicht aufhört zu lächeln. Auch eine Ansammlung älterer Gümmeler bittet um ein Bild, also setzt sich Cancellara kurzerhand auf eines ihrer Räder und posiert inmitten der Seniorengruppe, die ihr Glück kaum fassen kann.
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Der heutige Besitzer des Teams Tudor hat keine Mühe mit seiner Rolle als lebende Legende. Aber es ist ihm zu glauben, dass er sich dennoch immer mehr nach einem Nachfolger sehnt. «Hoffentlich kommt der erfreuliche Tag, an dem wieder einmal ein Schweizer die Tour de Suisse gewinnt», sagt Cancellara. Und das nicht nur, weil er es dann vielleicht etwas ruhiger hätte: «Es wäre für den Schweizer Radsport das Wichtigste.» Der Gesamtsieg eines Einheimischen, ist er sicher, würde einen Schub auslösen, von dem der Verband Swiss Cycling und seine Equipe Tudor profitieren könnten. Vor allem aber das Rennen selbst mit höheren Einnahmen im Marketing und Sponsoring.
Seit Cancellaras Triumph im Jahr 2009 hat kein Schweizer mehr triumphiert – so lange war die Baisse noch nie an der Landesrundfahrt, die seit immerhin 92 Jahren abgesehen vom Zweiten Weltkrieg und von der Pandemie immer stattgefunden hat. Sie ist eine nationale Institution geworden wie Wilhelm Tell und das Matterhorn. Die bisher längste Baisse war nach neun Jahren vorbei: 1972 gewann Louis Pfenninger, 1981 folgte Beat Breu. Jetzt sind es bereits sechzehn Jahre.
Swiss Cycling bevorzugt explosive und kräftige FahrerEs gibt einen schlichten Grund für die dürftige Bilanz der derzeitigen Ära, in der es nur noch Mathias Frank als Zweiter im Jahr 2014 aufs Podium schaffte. Das Rennen war topografisch immer so schwer, dass stets Bergspezialisten gewannen: drahtige Fahrer, die auch an den dreiwöchigen Rundfahrten reüssieren, zum Beispiel die Südamerikaner Egan Bernal und Richard Carapaz. Und dieser Fahrertyp ist in der Schweiz selten geworden.
Ein plausibler Grund für die Entwicklung ist die Ausbildungsstrategie von Swiss Cycling. Seit einigen Jahren legt der Verband grossen Wert darauf, dass Talente nicht nur in Strassenrennen antreten, sondern auch in anderen Velodisziplinen, im Radquer und im Mountainbike sowie insbesondere auf der Bahn. Das kommt explosiven, kräftigen Athleten zugute, sie können sich früh vielerorts auszeichnen. Und wer in jungen Jahren positiv auffällt, ist nicht nur motivierter, er wird auch besser gefördert. Dass vor allem grössere und schwerere Fahrer zu Profis werden, wird somit zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Die erfolgreichsten Schweizer Profis der letzten Jahre heissen Stefan Küng, Marc Hirschi, Silvan Dillier, Stefan Bissegger und Mauro Schmid. Alle fünf waren als Jugendliche auf der Bahn erfolgreich, Bissegger bestritt sogar noch die Olympischen Spiele 2021 mit dem Schweizer Vierer. Heute ist das Quintett im Zeitfahren oder an Classiques erfolgreich, im Hochgebirge aber chancenlos.
Vermutlich wären die Fahrer auch mit permanenten Trainings an den helvetischen Pässen keine Weltklasse-Kletterer geworden, ihre physischen Voraussetzungen sind andere. Nicht auszuschliessen ist aber, dass potenzielle Klassement-Fahrer in der Talentförderung zeitweise zu kurz kamen, weil sie auf der Bahn und im Gelände nicht gleichermassen zu brillieren vermochten. Zumindest machte es ihnen das System schwerer.
Eine prominente Ausnahme gab es: Gino Mäder schaffte es als Kletterer in die World Tour. Viele sagten ihm eine grosse Zukunft voraus. 2021 stürmte er über den Oberalppass, den Lukmanierpass und den Gotthardpass zu einem spektakulären Tageserfolg. «Gino wäre einer für den Gesamtsieg gewesen», sagt auch Cancellara. 2023 verunglückte Mäder an der Tour de Suisse tödlich. Am Donnerstag wurde am Unfallort eine Gedenkstätte eingeweiht, sämtliche zwanzig Teams schickten vor der fünften Etappe Vertreter auf den Albulapass. Der charismatische Fahrer hat eine schwer zu schliessende Lücke hinterlassen.
Vertreter von Swiss Cycling sind nicht gut auf die Bestandsaufnahme zu sprechen. Der Nationaltrainer Michael Schär entgegnet, dass das Schweizer Ausbildungssystem auch Kletterern die Möglichkeit biete, sich durchzusetzen. Keiner müsse ständig auf der Bahn trainieren, wenn ihm das nicht entspreche. Auf die Frage, warum das flache Dänemark zuletzt den zweifachen Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard und den Tour-de-Suisse-Champion Mattias Skjelmose hervorgebracht habe, die bergige Schweiz aber vor allem Rouleure, antwortet er: Das sei auch Zufall. Um Bergspezialist zu werden, müsse die Physis stimmen.
Und überhaupt, so Schär: «Wir haben doch Jan Christen.» Der könne alles, auch klettern. Auf dem erst 20-jährigen Aargauer ruhen grosse Hoffnungen, er ist nach seinen Erfolgen in den Nachwuchsklassen zur Projektionsfläche für die Träume der Velo-Schweiz geworden. Vor der Tour de Suisse hatte Schär gesagt, das Streckenprofil liege Christen wegen seiner Explosivität besonders: «Er hat im Gesamtklassement wirklich eine Chance.» Derartige Erwartungen können zur Bürde werden, wie sich noch zeigen wird.
Gian Ehrenzeller / Keystone
Schon der legendäre Renndirektor Josef Voegeli wusste, dass die Institution Tour de Suisse am hellsten strahlt, wenn Einheimische im Mittelpunkt stehen. Er bemühte sich nach Kräften, sie zu unterstützen. Hartnäckig halten sich Erzählungen, Voegeli habe während seiner von 1967 bis 1981 dauernden Regentschaft Fahrern aus dem Auto heraus Geldscheine ins Trikot gesteckt, um sie zu Höchstleistungen zu animieren.
Ab dann wurde die Tour de Suisse zum Volksfest. Nicht zuletzt, weil manchmal gleich mehrere Schweizer um den Gesamtsieg kämpften. Das Duell von Beat Breu und Gottfried Schmutz 1981 brannte sich ins kollektive Gedächtnis der Sportnation ein wie sonst nur die ganz grossen Triumphe der Skifahrer.
Viele Jahre später half im Rahmen des Erlaubten auch der damalige Rennchef Armin Meier dem Glück auf die Sprünge. Eine klassische Tour de Suisse hätte Cancellara, der ebenfalls kein Kletterer war, kaum gewonnen. 2009 wurde die Strecke aber perfekt auf ihn zugeschnitten. Es gab einen Prolog und ein Zeitfahren in seiner Heimatstadt Bern, dazwischen mehrere leichte Etappen. Den Lukmanier und den Gotthard liess Meier zwar befahren, platzierte sie aber auf den jeweiligen Etappen so früh, dass sie für Cancellara nicht zur Gefahr wurden.
Einem fröhlichen Patriotismus zu frönen, ist dem heutigen Tour-de-Suisse-Direktor Olivier Senn ebenfalls nicht fremd. Nach dem Sieg von Marlen Reusser im Frauenrennen läuft er freudestrahlend durch den Zielbereich in Küssnacht. Und am Dienstagabend, zwei Stunden nach dem Ende der dritten Etappe in Heiden, hält Senn in einem Hotel eine Ansprache vor Mitarbeitern und Journalisten, viele halten ein Glas Weisswein in der Hand. Durch die fassadenhohen Fenster reicht der Blick hinüber zum deutschen Bodenseeufer. Senn frotzelt: «Bis zum See ist die Sicht schön, danach nicht mehr so sehr.»
Angesprochen auf den fast plump massgeschneiderten Parcours von 2009, legt sich der Renndirektor fest: «So etwas machen wir heute nicht mehr.» Dass er seinen Fahrern tatsächlich nicht jeden Wunsch erfüllt, zeigt sich 2025. Obwohl Senn nicht nur für die Tour de Suisse verantwortlich ist, sondern die beiden Zeitfahrer Küng und Bissegger auch als Manager betreut, gibt es dieses Jahr keinen Kampf gegen die Uhr in der Fläche. Bissegger war darüber so verärgert, dass er Senn an den Kopf warf, er könne auch an der Dauphiné in Frankreich antreten.
Eine weniger bergige Landesrundfahrt käme der heutigen Generation zugute, die durchaus mehrtägige Rennen für sich zu entscheiden vermag, solange diese nicht gerade durch die Alpen führen: Küng siegte zweimal an der Valencia-Rundfahrt, Hirschi an den nationalen Etappenrennen in Ungarn, Tschechien und Luxemburg, Schmid in Belgien und der Slowakei.
Senn hält dagegen, dass er die Route keineswegs eigenmächtig festlegen könne. Lokale Organisatoren stünden nicht mehr Schlange, oft ergebe sich die Strecke anhand der möglichen Start- und Zielorte mittlerweile fast von allein. Dennoch suchte er in diesem Zusammenhang einmal das Gespräch mit Küng. Senn fragte den Fahrer, ob er sich einmalig voll auf die Gesamtwertung fokussieren würde, wenn ihm die Strecke etwas mehr entspräche. 2022 war Küng immerhin Fünfter geworden, trotz zwei Bergankünften. Der heute 31-Jährige reagierte zurückhaltend: Was, fragte er zurück, wenn alles auf ihn ausgerichtet sei, und dann werde er krank?
Wenige Minuten vor dem Start der vierten Etappe, immer noch in Heiden, gibt Küng bezüglich eines ernsthaften Angriffs auf das gelbe Trikot zu: «Es wäre ein Traum.» Der 31-jährige Thurgauer sagt das im Wissen, dass es für ihn dann kaum damit getan wäre, einem knappen Dutzend Schulkindern Autogramme zu geben wie an diesem Morgen. Er beherrscht den Umgang mit Fans und käme mit jedem Hype zurecht. Dennoch wirkt Küng nicht, als wäre er bereit für einen konsequenten Versuch. Zu ungewiss sind die Aussichten, zu sehr würde er andere Ziele gefährden. Die Schweizer Landesrundfahrt bedeutet ihm viel, aber nicht alles.
Gian Ehrenzeller / Keystone
Bleibt der Landsmann Jan Christen, den derartige Skrupel nicht plagen. Einige Wochen vor der Tour de Suisse wurde dem 20-Jährigen, der über einen enormen Ehrgeiz verfügt, von seinem Team UAE an der Landesrundfahrt eine geschützte Rolle versprochen. So schildert es jemand aus seinem persönlichen Umfeld. Neben dem Captain João Almeida sollte Christen um eigene Erfolge kämpfen dürfen, habe es ausdrücklich geheissen, Helferdienste müsse er nicht verrichten.
Es kommt anders. An der zweiten Etappe nach Schwarzsee setzt UAE überraschend auf den Sprinter António Morgado. Doch Christen torpediert die Taktik. Vielleicht denkt er an frühere Versprechungen, vielleicht steht er auch unter dem Eindruck der geballten Hoffnungen. Auf jeden Fall attackiert Christen zweieinhalb Kilometer vor dem Ziel und vereitelt die Anfahrt für Morgado. Unmittelbar hinter der Ziellinie ätzt der gemeinsame Teamkollege Mikkel Bjerg über Christen: «Ich war sehr überrascht. Schön, dass er gute Beine hat. Schade, dass er nicht weiss, wie er uns helfen könnte.»
Von einer protegierten Rolle kann seit dem Vorfall keine Rede mehr sein. Christen sagt am nächsten Morgen zwar, Bjerg habe sich entschuldigt. Aber auf der vierten Etappe über den Splügenpass muss sich der Aargauer für Almeida aufopfern, bis er das Tempo der Spitzengruppe nicht mehr halten kann. Wer an der Tour de Suisse überzeugen möchte, braucht freie Fahrt. Zumindest dieses Jahr hat Christen sie nicht.
Man kann den Sieg zu wenig wollen, vielleicht gilt das für Küng. Aber auch zu sehr, womöglich trifft das auf Christen zu. Es ist eine Crux, als Schweizer an der Tour de Suisse anzutreten. Am nationalen Heiligtum, das so viele Legenden hervorgebracht hat, jetzt aber immer dringender einen neuen Helden sucht.
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