Grosse Machtverschiebung in der Leichtathletik: Die afrikanischen Läufer werden entzaubert


Sarah Meyssonnier / Reuters
In der Leichtathletik findet auf den Mittel- und Langstrecken eine tektonische Verschiebung statt, weg von Afrika, hin zu Europa. Diese führt an grossen Titelkämpfen zu Erdbeben: Athletinnen und Athleten mit europäischen Wurzeln jubeln; den einst als Wunderläufer gepriesenen Ostafrikanern bleibt das Nachsehen.
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Der Trend zeichnet sich schon seit einigen Jahren ab, eine der Leitfiguren ist der Norweger Jakob Ingebrigtsen, der seit 2021 an allen globalen Titelkämpfen mindestens einmal Gold gewann und mehrere Weltrekorde lief. In Tokio schied er über 1500 m früh aus; er hatte wegen einer hartnäckigen Verletzung im Sommer kein einziges Rennen bestritten.
Trotzdem lässt sich die Bilanz der Athleten mit europäischen Wurzeln nach sechs von zehn Entscheidungen in den Mittel- und Langstrecken sehen. Die 10 000 m gewann der Franzose Jimmy Gressier, als Dritter stand mit dem Schweden Andreas Almgren ein weiterer Europäer auf dem Podest. Über 3000 m Steeple warf sich der Neuseeländer George Beamish als Erster ins Ziel, und im 1500-m-Lauf siegte mit Isaac Nader zwar ein Portugiese marokkanischer Herkunft, aber 9 der 15 Finalisten haben in ihrem Stammbaum europäische Vorfahren.
Um zu verdeutlichen, was passiert ist, reicht ein Blick zurück in die Geschichte: Über 1500 m gab es von 1987 bis 2019 nur Weltmeister afrikanischer Abstammung, an den Olympischen Spielen dauerte die Dominanz von 1996 bis 2012. Über 10 000 m hielt diese auf globaler Ebene von 1987 bis 2024 an, im Steeple war sie von 1991 bis 2024 ungebrochen.
Bei den Frauen ist die Verschiebung noch nicht so stark, doch in Tokio gab es in jedem der drei bisher ausgetragenen Läufe eine Medaille für Athletinnen mit europäischen Vorfahren, und über 800 m ist die haushohe Favoritin eine Britin, Keely Hodgkinson. Sie wurde im vergangenen Jahr Olympiasiegerin und wirkt mit ihren Tempoläufen unwiderstehlich.
Sarah Meyssonnier / Reuters
Es gibt für diese Verschiebungen diverse Ursachen. Einige davon liegen in Afrika. Besonders in Kenya wird seit einigen Jahren konsequent nach Dopern gefahndet. Dass dabei Olympiasiegerinnen und Weltmeister oder Gewinner der grössten Marathons erwischt werden, beweist, dass die Ostafrikaner nicht einfach dank einem genetischen Vorteil dominierten.
Andererseits ist der Glaube an die natürliche Überlegenheit so gross, dass speziell Verbandsfunktionäre noch unglaublich ignorant agieren. Für den 10 000-m-Lauf wurden Athleten erst zwei Tage vor dem Final nach Tokio geflogen, ohne Akklimatisierung, ohne auch nur einen Gedanken an den Jetlag. Ein Schweizer Coach traf auf der Trainingsanlage einen kenyanischen Athleten, der nicht einmal wusste, dass am folgenden Tag sein Rennen stattfinden würde.
Jahrelang konnten sich die Kenyaner solche Fehler leisten, sie wurden höchstens von ihren äthiopischen Nachbarn und Rivalen übertölpelt, die lange etwas professioneller an die Grossanlässe herangingen. Heute gilt für Ostafrikaner generell: Erfolg hat, wer auch an den Titelkämpfen auf ein professionelles Management zurückgreifen kann, wie etwa Faith Kipyegon, die grosse Dominatorin über 1500 m.
Dass heute auch Europäer, Amerikaner und Ozeanier grosse Titel gewinnen, hat aber nicht nur mit der Schwäche der Afrikaner zu tun. Die westlichen Nationen begannen um die Jahrtausendwende, mit Wissenschaft und Methodik gegen die Überlegenheit der Läufernationen anzukämpfen. Vorreiter war dabei der Amerikaner Alberto Salazar, der 2001 mit Millionen von Nike das Oregon Project lancierte, das zum Ziel hatte, den ersten amerikanischen Olympiasieger im Marathon seit Frank Shorter 1972 zu erschaffen.
Salazar setzte auf Wissenschaft und modernste Technologie, er war der erste Trainer, der Laufbänder mit reduzierter Schwerkraft einsetzte oder solche, mit denen man im Wasser rennen konnte. Sein erfolgreichster Athlet hatte aber afrikanische Wurzeln, es war der Brite Mo Farah, der aus Somalia stammt. Er wurde viermal Olympiasieger und sechsmal Weltmeister über 5000 und 10 000 m.
Der amerikanische Trainerguru ritzte oder überschritt aber die Grenzen des Legalen, er experimentierte mit Testosteron und liess für seine Athleten von einem schmierigen Arzt Atteste für die Einnahme von Schilddrüsenhormonen ausstellen, obwohl es keinen medizinischen Grund dafür gab. Ausserdem wurde Salazar von Athletinnen vorgeworfen, er habe einen rüden, übergriffigen Umgangston und fixiere sich allzu sehr auf ihr Körpergewicht. Er wurde 2021 auf Lebzeiten von allen Funktionen im Sport ausgeschlossen.
Salazars Grundsatz, dass die Afrikaner zu schlagen seien, lebte jedoch weiter. Einer, der ihn konsequent umsetzte, war der Norweger Gjert Ingebrigtsen, ein Selfmade-Trainer, der seine Kinder zu Läufern formte. Er setzte dabei auf lange Aufenthalte in der Höhe und Tage mit zwei Intervalltrainings an der Laktatschwelle. Drei seiner Söhne wurden Europameister über 1500 m, der jüngste von ihnen ist Jakob, der dominierende Läufer der vergangenen Jahre.
Aber auch die Geschichte von Gjert Ingebrigtsen endete in einem Skandal. 2022 trennten sich die Söhne von ihm als Trainer, ein Jahr später warfen sie dem Vater in einem offenen Brief jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch vor. In diesem Jahr kam es zu einem Prozess, doch der Angeklagte wurde weitgehend freigesprochen.
Vater Ingebrigtsen stellt einen Patent-AntragEr trainiert inzwischen andere Athleten, wird aber vom norwegischen Verband nicht an Grossanlässe mitgenommen. Kurz vor den WM liess er verlauten, er habe den Antrag gestellt, den Begriff «Ingebrigtsen Method» rechtlich schützen zu lassen.
Ob es wirklich eine von ihm erfundene Methode gibt, die sich patentieren liesse, ist fraglich. Sicher ist, dass lange Aufenthalte in der Höhe und sogenanntes Double-Threshold-Training heute zum Standard gehören. Es gibt weltweit ungezählte Gruppen und Grüppchen, die versuchen, mit wissenschaftlicher Akribie und Leidensfähigkeit an die Weltspitze vorzustossen.
Das sind teilweise Eigeninitiativen, oft bilden und finanzieren aber auch grosse Sportmanagement-Agenturen oder Schuhfabrikanten solche Camps. Ein Beispiel dafür ist die Schweizer Firma On mit ihrem Athletics Club. Es gibt inzwischen drei Ableger davon, einen im Engadin, einen in den USA und einen in Ozeanien. Seit diesem Sommer unterstützt die Firma zudem eine internationale Gruppe von 800-m-Läuferinnen, die der frühere Schweizer Nationaltrainer Louis Heyer gegründet hat. Geplant ist zudem ein Stützpunkt in Kenya.
All das führt zu einer Verschärfung des Wettkampfs in den Läufen. Wollen die Afrikaner mithalten, müssen auch sie Training, Ernährung, Erholung und langfristige Planung professionalisieren. Ob sie jemals wieder derart dominieren werden wie vor einem Jahrzehnt, ist fraglich. Das Publikum aber freut sich, dass die Wettkämpfe vielfältiger und spannender geworden sind.
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