Der Tennisprofi Marco Trungelliti liess die Wettmafia auffliegen – danach wurde ihm das Leben zur Hölle gemacht


Oscar Manuel Sanchez / Imago
Hoch oben hinter der Roy-Emerson-Arena in Gstaad thront eine Eisenbahnbrücke. Es ist ein unscheinbares, funktionales Monument, über das im Halbstundentakt die Wagen des Panorama-Expresses rattern, der internationalen Touristenattraktion im Stile der Belle Époque.
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Es ist später Samstagnachmittag, Marco Trungelliti zeigt zu dieser Passerelle hinauf und beginnt zu erzählen. Er verbinde Erinnerungen mit diesem Zweckbau. 2019 verlor er in der Qualifikation zum Gstaader ATP-Turnier in zwei Sätzen gegen Gian Marco Moroni, es war eines der schlechtesten Spiele seiner Karriere. «Da bin ich zu dieser Brücke gelaufen und habe mir eine Stunde lang Gedanken über mein Leben gemacht», sagt Trungelliti. Er sinniert über den Rücktritt, mit erst 29 Jahren.
Und in einem zweiten Schritt denkt er sich, dass es vielleicht besser wäre, wenn er einfach von dieser Welt verschwände. «Daran zu denken, bedeutet nicht, dass man das auch wirklich beabsichtigt. Aber es ging mir wirklich nicht gut, mein mentaler Zustand war mies. Ich habe das noch nie öffentlich gesagt, weil Suizidgedanken ein Tabuthema waren. Für meine Generation sowieso. Aber zum Glück ändert sich das langsam», sagt er.
Trungelliti ist 35 und zurzeit die Nummer 149 der Tennis-Weltrangliste. Ein Argentinier mit sanften Gesichtszügen und wallender Mähne. Ein bisschen gemahnt er an eine jüngere Version des italienischen Rockmusikers Jovanotti.
100 000 Dollar, um absichtlich ein Spiel zu verlierenHinter ihm liegen bewegte Jahre, er kämpfte lange mit Depressionen. Es ist schwer zu sagen, wann sie sich genau manifestierten. Aber der Auslöser lässt sich benennen: Im Jahr 2015 werden Trungelliti in Argentinien via Facebook bis zu 100 000 Dollar angeboten, damit er absichtlich ein Spiel verliert. Er lehnt ab, meldet den Vorfall und wird zum Kronzeugen eines Schauprozesses, an dessen Ende mehrere Spieler lange gesperrt werden, unter anderem die heute wieder aktiven Sandplatzspezialisten Federico Coria und Nicolás Kicker.
Doch dem Whistleblower schlägt nicht Dankbarkeit entgegen – sondern ungefilterte Feindschaft. «Ratte» und «snitch» wird er genannt, Verräter. Die für die Untersuchung zuständige Tennis Integrity Unit hatte es nicht für nötig befunden, den Kronzeugen zu anonymisieren.
Für Trungelliti beginnt eine dunkle Zeit: Gegenspieler weigern sich, ihm die Hand zu geben. Gegnerische Coaches grüssen ihn nicht mehr. Er erhält Drohungen, fühlt sich in der Heimat nicht mehr sicher und kehrt kaum noch nach Argentinien zurück. «Zum Glück lebte ich zu dieser Zeit in Barcelona, sonst hätte es ganz böse enden können», sagt Trungelliti.
Wer denkt: «Trungelliti und Barcelona, da war doch was», liegt richtig: 2018 war er in der Qualifikation für das French Open ausgeschieden, reiste ab – und schaffte es als Lucky Loser doch ins Hauptfeld. Kurzerhand reiste er mit seiner 88-jährigen Grossmutter zehn Stunden im eigentlich für Kurzferien gebuchten Mietwagen von Barcelona nach Paris. Und gewann sein Erstrundenspiel trotzdem. Es war ein rarer Lichtblick in den trüben Jahren des lähmenden mentalen Nebels.
Doch die spanische Metropole ist ihm zu hektisch. Ein halbes Jahr logiert er in Neuenburg, aber es irritiert ihn, dass die Menschen um 18 Uhr zu Abend essen. Und die Strassen um 21 Uhr leer sind. Dann zieht er mit seiner Ehefrau Nadir nach Andorra. Er sagt, die Berge hätten eine beruhigende, heilende Wirkung auf ihn: «Auf dem Tennisplatz habe ich mich miserabel gefühlt, depressiv, wütend. Aber in den Bergen war ich ein ganz normaler Mensch.»
Er denkt an Rücktritt, während der Corona-Pandemie erst recht. Im April 2021 reist er für ein Turnier des zweitklassigen Challenger-Circuits nach Oeiras, Portugal. Sein Coach erkrankt an Covid-19, wenig später zeigt auch Trungelliti Symptome. Ein Arzt verordnet eine zehntägige Quarantäne im Hotel, und als er nach zehn Tagen positiv getestet wird, muss er noch einmal so lange bleiben.
Es ist, als hätte plötzlich jemand den Stopp-Knopf in seinem Leben gedrückt. Die Ablenkungen des Profi-Daseins fallen plötzlich weg: die Reisen, die Trainings, die Spiele. Trungelliti hat viel Zeit, um nachzudenken. Er sagt: «Ich fühlte mich als Opfer. Die Tennis Integrity Unit hatte mich im Prozess benutzt und null unterstützt. Aber in Oeiras bin ich tief in mich gegangen und habe beschlossen, die Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen. Ich hatte keine Lust mehr, mich zu verstecken. Seither geht es mir viel besser, ich konnte viel Hass und Ballast abwerfen. Ich bin ruhiger geworden, ausgeglichener, fast wie ein Schweizer. Ich spüre, wie mein südamerikanisches Temperament schwindet.»
Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, gibt es verschiedene Hilfsangebote:In der Schweiz können Sie die Berater der Dargebotenen Hand rund um die Uhr vertraulich unter der Nummer 143 erreichen.In Deutschland finden Sie entsprechende Hilfe bei den Beratern der Telefonseelsorge, online oder telefonisch unter der Nummer 0800 / 1110111.
Trungelliti ist eine reflektierte Person, jemand, der sich kümmert, der sich Gedanken macht. Schon lange bevor er in Portugal strandet, sucht er Hilfe bei einem Psychologen. Dessen plötzlicher Tod ist ein schwerer Schlag für ihn, Trungelliti sagt: «Es war nicht einfach für mich, Vertrauen zu einem Therapeuten aufzubauen. Für meine Generation gab es das ja lange eigentlich gar nicht: Depressionen. Das war einfach ein abstraktes Wort.»
Er findet einen neuen Psychologen – und erzielt in der Einsamkeit von Oeiras den grossen Durchbruch. Seither hat sich in seinem Leben vieles zum Positiven gewendet. Er ist Vater geworden, die Ausbrüche auf dem Platz wurden seltener. «Vor ein paar Monaten habe ich wieder einmal einen Schläger zertrümmert, das war der erste seit einer kleinen Ewigkeit», sagt Trungelliti.
Sportlich hat es nicht viel verändert, dass er seinen inneren Frieden gefunden hat. Trungelliti kämpft um den Anschluss an die Top 100, darum, einen Startplatz im Tableau der regulären ATP-Turniere zu erreichen. 2024 schaffte er das bloss vier Mal, sonst tingelt er um die Welt und absolviert Challenger-Turniere.
In seiner Karriere hat er 1,8 Millionen Dollar eingespielt. Das klingt nach einer schönen Summe, doch nicht eingerechnet sind die Steuern auf das Preisgeld und die hohen Ausgaben für Trainer, Reisen und Physiotherapeuten.
In Gstaad hat Trungelliti an diesem Samstag in der ersten Qualifikationsrunde gerade den Zürcher Alexander Ritschard geschlagen, komfortabel in zwei Sätzen. Das bringt ihm knapp 1500 Franken. Er sagt: «Wenn ich morgen nicht gewinne, habe ich mit der Teilnahme hier Geld verloren.» Seine Konten seien leer, sagt Trungelliti, manchmal müsse er jonglieren, um sein Team bezahlen zu können.
Es ist nicht zuletzt diese finanzielle Realität für die Spieler ausserhalb der Top 100 der Weltrangliste, die einen Nährboden für Wettbetrug schafft. Für 25 000 Dollar eine Partie absichtlich verlieren bringt schnelleres Geld. Auf der Challenger-Tour muss man dafür ein Turnier gewinnen, also fünf Runden überstehen. Von den drittklassigen ITF-Turnieren ganz zu schweigen.
Wie weit verbreitet sind manipulierte Spiele heute? «Auf der Challenger-Tour passiert das die ganze Zeit. Ich sehe die gleichen Leute herumschleichen wie früher, es hat sich nichts getan», sagt Trungelliti, und in seiner Stimme liegt kein Zweifel. Dann fügt er an: «Die ATP profitiert stark vom Wettgeschäft. Daran müssten wir Spieler stärker partizipieren, das ist das Mindeste an Entschädigung dafür, was wir alle durchmachen. Für den ganzen Hass, den wir abkriegen. Ich könnte jetzt mein Handy hervorholen und hätte bestimmt zehn Instagram-Nachrichten, in denen mir, meiner Frau oder meinem Sohn der Tod gewünscht wird. Und das nach einem gewonnenen Match.»
Für die Wettanbieter ist Tennis ein höchst lukrativer MilliardenmarktMorddrohungen von frustrierten Spielsüchtigen gehören für Tennisprofis mittlerweile zum Alltag, das Phänomen ist bekannt und scheint Plattformen wie Instagram nicht zu kümmern. Weniger präsent dürfte im kollektiven Gedächtnis der Umstand sein, dass sowohl die ATP wie die International Tennis Federation (ITF) millionenschwere Abkommen mit der Schweizer Firma Sportradar geschlossen haben.
Die Spieldaten gehen vom Schiedsrichterstuhl über das börsenkotierte Unternehmen in Echtzeit direkt zu den Wettanbietern, für die Tennis-Wetten ein globaler Milliardenmarkt sind. Man kann auf fast alles setzen, etwa darauf, wer den nächsten Punkt gewinnt oder wem das nächste Break gelingt. Und zwar von Wimbledon bis zum ITF-Turnier in Muttenz, wo das Preisgeld für den Sieger bei knapp 4000 Franken liegt. In vielen Fällen besitzen die Wettanbieter auch die Übertragungsrechte – auf ihren Plattformen lassen sich die Spiele live verfolgen.
Trungelliti ist nicht der einzige Spieler, der es stossend findet, dass er sich überlegen muss, ob er es sich leisten kann, in Gstaad je ein Einzelzimmer für sich und seinen Trainer zu buchen. Während sich Denise Coates, die CEO des führenden Sportwettenanbieters Bet365, auch dank den erwirtschafteten Einkünften durch die von der ATP gelieferten Daten ein Salär von über 100 Millionen Franken auszahlen kann.
Trungelliti sagt, er habe in den vergangenen Jahren nie mehr Angebote der Wettmafia erhalten: «In Bezug auf mich ist das der einzig positive Aspekt dieser Geschichte.» Er sagt, er bereue es keinesfalls, die Avancen gemeldet zu haben. Aber nach dem, was ihm widerfahren sei, begreife er jene, die sich dagegen entschieden.
Doch auch 2025 ist Trungelliti jemand, der die Dinge beim Namen nennt, ein Kämpfer für Gerechtigkeit. Er sagt: «Spieler in meiner Region der Weltrangliste können es sich eigentlich nicht leisten, verletzt zu sein. Dann hast du Kosten von 10 0000 Dollar pro Monat und null Einnahmen. Also seuchst du dich durch und spielst verletzt, das schadet wiederum dem Produkt. Man muss das ganze System neu denken, es gibt mehr als genug Geld im Tennis. Es braucht nur eine Umverteilung von oben nach unten. Aber die Topspieler wie Roger Federer und Rafael Nadal hat es nie interessiert, wie es den anderen Spielern ergeht.»
Gstaad bringt für Trungelliti in diesem Jahr etwas finanzielle Linderung: Er gewann auch seine zweite Qualifikationspartie und trifft am Dienstag im Hauptfeld nun auf Francisco Comesaña. Auch Aussenseiter wie Trungelliti können hier in diesen Tagen einiges erreichen – das Turnier ist nach diversen Absagen schwach besetzt.
Vielleicht ist es Trungellitis letztes Gastspiel in Gstaad, er wird im Januar 36. Womöglich hilft ihm die Kraft seiner geliebten Berge im Alpenpanorama des Saanenlands, ein Resultat zu erreichen, das die dunklen Erinnerungen an die Stunde bei der Eisenbahnbrücke über der Roy-Emerson-Arena verdrängt.
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