Der Radsport braucht eine Sicherheitsrevolution – doch Lösungen werden nur zögerlich umgesetzt


Und dann trifft es sogar den Superstar der Tour de France. Tadej Pogacar, dreifacher Gesamtsieger, stürzt auf der elften Etappe. Tobias Johannessen bringt ihn zu Fall, weil er im falschen Moment die Spur wechselt. Pogacar kommt glimpflich davon, erleidet nur Hautabschürfungen. Ein Fahrfehler, wie er passieren kann – das sieht auch Pogacar später so. Am nächsten Tag gewinnt er souverän die erste Pyrenäen-Etappe.
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Pogacars Sturz liefert dem Veranstalter der Tour und dem Weltverband UCI eine willkommene Erklärung: Die Schuld liege bei den Fahrern. Diese seien vor allem zu Beginn einer Grand Tour zu nervös, zu hektisch, zu rücksichtslos auf der Jagd nach Erfolg, heisst es oft in solchen Fällen.
Im Fall Pogacar mag das zutreffen. Doch die Statistik der UCI widerspricht der These, dass vor allem die Fahrer für Stürze verantwortlich sind. 2024 zählte die UCI an ihren Rennen 497 Zwischenfälle. Nur etwa ein Drittel davon ging auf Fahrfehler zurück. Die übrigen Ursachen lagen in der Streckenführung, äusseren Bedingungen wie Strassenzustand oder Wetter oder in einer Verkettung verschiedener Faktoren.
Drei Kilometer pro Stunde schneller als noch 2016Der Tessiner Rocco Cattaneo ist ehemaliger Radprofi, bestritt in den 1980er Jahren Rennen. Heute sitzt der Alt-Nationalrat im Vorstand der UCI. Cattaneo vertritt den Weltverband in der «SafeR»-Kommission mit Vertretern von Teams, Rennveranstaltern und Fahrern. Die UCI tritt in diesem Gremium als Mediatorin auf. Die Kommission wurde nach dem tödlichen Unfall von Gino Mäder an der Tour de Suisse 2023 geschaffen. «Wir sammeln Erfahrungen, suchen Lösungen, alle Parteien sitzen an einem Tisch», sagt Cattaneo. Jeder Sturz werde analysiert und die Ursachen untersucht.
Ziel sei es, im Radsport eine Sicherheitskultur zu schaffen, sagt Cattaneo: «Dabei sind alle Akteure gefordert, das Problem hat viele Facetten.» Die Strassen seien beispielsweise gefährlicher geworden: mehr Kreisel, mehr Hindernisse zur Geschwindigkeitsreduktion, mehr Verkehrsinseln. «Für die Organisatoren wird es immer schwieriger, einen sicheren Parcours zu planen», sagt Cattaneo.
Vergangene Woche kam es beim Nachwuchsrennen Giro della Valle d’Aosta zu einem tödlichen Unfall. Der 19-jährige Italiener Samuele Privitera verlor auf einer Abfahrt wegen einer Bodenwelle die Kontrolle, stürzte, verlor den Helm und starb später im Spital. Er soll mit etwa 70 Kilometern pro Stunde unterwegs gewesen sein.
«Das Tempo hat zugenommen», sagt Cattaneo. Die Fahrer seien stärker, die Etappen kürzer, die Intensität höher. Laut UCI stieg das Durchschnittstempo bei Profirennen seit 2016 um 3 Kilometer pro Stunde. Teams optimieren alles: Früher arbeiteten nur Zeitfahrspezialisten an ihrer Aerodynamik, heute tut es fast jeder Profi.
Die Velos sind ausserdem leichter geworden, die Trikots windschnittiger, die Lenker schmaler. Scheibenbremsen ermöglichen späteres Bremsen – das führt zu mehr Tempo und erhöht das Sturzrisiko. Laut dem Fachportal «Pro Cycling Stats» verletzten sich 2019 208 Profis im Rennen, 2022 waren es 324, in der laufenden Saison bereits 267.
Mit gelben Karten betreibt die UCI keine PräventionWie Streckenplanung, Reglement, Technik und Fahrfehler zusammenwirken, zeigt der Unfall von Jasper Philipsen. Der belgische Sprinter gewann die Startetappe der Tour de France und trug das Maillot jaune. Zwei Tage später schied er aus, nachdem er bei einem Zwischensprint mit einem Konkurrenten kollidiert war. Fahrfehler? Vielleicht. Doch Zwischensprints bringen UCI-Punkte, die für kleinere Teams entscheidend sind, um in der Weltrangliste aufzusteigen. Diese wiederum bestimmt die Vergabe der World-Tour-Lizenzen – entsprechend hart umkämpft sind die Sprints.
Der Sprint, bei dem Philipsen verunfallte, wurde auf abschüssiger Strecke ausgetragen. Das Tempo war horrend. Philipsen erlitt Hautabschürfungen, brach sich Schlüsselbein und Rippen. Wer daran schuld ist? Natürlich die Profis, sagen Tour-Veranstalter und UCI. Der Weltverband bestrafte den Verursacher von Philipsens Sturz mit einer gelben Karte.
Diese Verwarnung führte die UCI in dieser Saison ein. Wer aus Sicht der Kommissäre ein Sicherheitsrisiko darstellt, bekommt eine gelbe Karte gezeigt. Die Regel gilt auch für den Tour-Tross, Sportdirektoren, Begleiter, Reporter. Drei gelbe Karten innerhalb von 30 Tagen ziehen zwei Wochen Sperre nach sich.
Die Radprofis äusserten sich vor dem Tour-Auftakt in Lille skeptisch zur neusten Massnahme. Pogacar sagte: «Ich verstehe die Regel nicht. Ich finde, sie wird inkonsequent angewendet.» Die Kritik zeigt ein Grundproblem: Der Radsport hat ein Sicherheitsdefizit. Das Tempo steigt, die Stürze nehmen zu – und die UCI reagiert mit gelben Karten. Sie bestraft, statt vorzubeugen.
Cattaneo sieht die Karten als Erziehungsmassnahme, um die Sicherheitskultur zu fördern. Das brauche Zeit. Die UCI werde die Vergabe aber transparenter machen und in die Ausbildung der Rennkommissäre investieren. Gleichzeitig beobachtet Cattaneo, dass vor allem junge Fahrer mehr Risiken eingehen, aber fahrtechnisch schlechter ausgebildet sind. «Wir müssen bei der Ausbildung ansetzen. Sie müssen das Pilotieren in den Abfahrten lernen. »
Früher habe sich das Fahrerfeld oft selbst reguliert, erinnert sich Cattaneo. «Bei nassen Strassen haben Spitzenfahrer die anderen zur Vorsicht gemahnt.» Auch ungeschriebene Regeln seien eingehalten worden, etwa nicht in gefährlichen Abfahrten anzugreifen. «Wir müssen wieder dorthin zurück», sagt er.
Airbags für Radprofis?Neben den gelben Karten hat die UCI vor allem technische Massnahmen ergriffen. Lenker dürfen nicht mehr beliebig schmal sein, Felgenhöhen sind begrenzt, um die Stabilität bei Seitenwind zu verbessern. Ausserdem soll die Signalisation an allen Rennen vereinheitlicht werden.
An den Strassen-Weltmeisterschaften Ende September in Kigali will die UCI alle Fahrerinnen und Fahrer mit einem GPS-Tracker ausstatten. Solche kamen an der diesjährigen Tour de Suisse auf Initiative der Organisatoren erstmals zum Einsatz, nach dem Tod der Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer an den WM 2024 in Zürich.
Zudem denkt die «SafeR»-Kommission über Airbags im Helm nach, der Skisport hat jedoch gezeigt, wie lange eine solche Neuerung dauern kann. Eine Umfrage belegt, dass viele Radprofis dem positiv gegenüberstehen. Doch es gibt Bedenken: Wie schwer wird der Helm? Wie stark schwitzt der Fahrer? «Es wird Monate oder Jahre dauern, bis ein passendes Modell gefunden ist und die UCI ein Reglement erlassen kann», sagt Cattaneo.
Eine schnelle Sicherheitsrevolution im Radsport ist also nicht in Sicht, weder von der UCI noch von Veranstaltern oder Fahrern. Das Problem scheint aber überall erkannt – nach mindestens fünf tödlichen Unfällen seit 2023.
Christophe Petit Tesson / EPA
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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