Das Abenteuer Tour de France beginnt für Tudor ohne Glamour – der Chefmechaniker ist entspannt, der CEO fürchtet, er könnte ein wichtiges Detail vergessen


Eine Kleinstadt irgendwo zwischen Lille und Lens. Eine riesige Shoppingmall dominiert das Bild, umgeben von Fast-Food-Restaurants. Auf der Schnellstrasse rasen Autos vorbei. Im Hintergrund ragt ein schwarzer Hügel in den Himmel, unpassend zur flachen Landschaft. Es ist der Abraum des Kohlebergbaus, der einst vielen Menschen Arbeit gab – bis die Zechen Anfang der 1990er Jahre schlossen, weil sich die Förderung nicht mehr rentierte.
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In dieser unscheinbaren Kulisse beginnt für das Veloteam Tudor das wichtigste Rennen seiner Geschichte – ohne Glanz und Glamour. Die 2022 gegründete Schweizer Equipe darf erstmals an der Tour de France teilnehmen, sich auf der grösstmöglichen Bühne des Radsports präsentieren. Für Tudor ist das ein Meilenstein.
Der Parkplatz vor dem Teamhotel ist voll. Tudor teilt sich die Unterkunft mit einem anderen Team. Überall stehen Cars, Begleitfahrzeuge – und da befindet sich auch der Werkstattbus von Diego Costa. Zwei Mechaniker schrauben drinnen, zwei weitere arbeiten draussen. Costa, ein breitschultriger Italiener mit raspelkurzem Haar und festem Händedruck, ist Tudors Chefmechaniker. Er bleibt gelassen, obwohl bis zur Tour-Premiere nur noch zwei Tage bleiben.
Tudor bringt vierzig Velos zur Tour de FranceCosta sagt, die Tour unterscheide sich für ihn und die drei anderen Mechaniker kaum von anderen Rundfahrten wie dem Giro. Er muss es wissen – es ist seine 16. Tour de France. Bis 2024 arbeitete er für das Team Sky und dessen Nachfolger Ineos Grenadiers. «Wir haben uns intensiv vorbereitet. Ich bin entspannt, wir machen unseren Job», sagt er. Doch er spürt, wie die Motivation im Team steigt. In Frankreich umfasst es 35 Personen.
Für die Mechaniker begann die Tour eine Woche früher im Service-Course, dem Lager für Velos und Ersatzteile in Schenkon bei Sursee. Dort revidierten sie die Räder: neue Ketten, frische Reifen, präzise eingestellte Schaltungen, überprüfte Bremsen. Costa hat den Ablauf genau festgelegt – das erhöhe die Sicherheit, sagt er.
Christophe Petit Tesson / EPA
Für die 8 Fahrer nimmt Tudor 24 Strassenvelos und 16 Zeitfahrmaschinen mit nach Frankreich. Dazu 65 Reifensätze in verschiedenen Grössen und allerlei Ersatzteile: Schaltgruppen, Rahmen, Sättel. Und gegen 5000 Bidons für die Getränke: «Was die Technik anbelangt, bin ich entspannt. Uns können nur Stürze mit gebrochenen Rahmen oder Platten stoppen», sagt Costa. Die grösste Herausforderung sei, die Mitarbeiter während vier Wochen bei guter Stimmung zu halten.
Der Chefmechaniker sieht vom Rennen wenigWährend der Tour ist der Tagesablauf der Mechaniker streng getaktet. Morgens pumpt einer die Reifen, ein anderer prüft die Bremsen, Costa setzt die Vorderräder ein und kontrolliert die Batterien der Schaltungen. Nach dem Start fährt er ins nächste Hotel, organisiert Wasser, Strom und Parkplätze.
Nach dem Rennen waschen er und sein Team die Velos, besprechen mit dem sportlichen Leiter das Set-up des nächsten Tages. Jeder ist für die Velos zweier Profis zuständig. Meist dauern die Tage von 8 bis 21 Uhr. «Vom Rennen bekomme ich wenig mit, aber ich habe schon genug Grands Tours erlebt», sagt Costa. Warum er diesen Job macht? «Ich will gewinnen. Das ist das beste Gefühl, wenn wir als Team erfolgreich sind», sagt Costa.
Das will auch Raphael Meyer, der CEO von Tudor. Im Foyer des Teamhotels erzählt er, wie anstrengend die Anreise und die Tage vor der Tour gewesen seien; vollgepackt mit Pressekonferenzen und Sponsorenterminen. «An der Grande Boucle ist alles grösser – der Tross, die Fahrzeuge, die Organisation.» Und anders als bei anderen Rundfahrten steht Tudor in Frankreich besonders im Fokus – dank Julian Alaphilippe. Der Franzose ist zweifacher Weltmeister und in seiner Heimat ein Star. Er war an der Tour schon Leader, kennt das Gefühl, das Maillot jaune zu tragen. «Vor dem Start wird unser Teambus belagert werden, daran müssen wir uns gewöhnen», sagt Meyer.
Tudor sieht sich immer noch als Startup und will Erfahrungen sammelnDas Team hatte weniger als hundert Tage, um sich auf die Tour vorzubereiten, denn die Wild Card kam erst Ende März. Bis dahin plante Tudor die Saison ohne Gewissheit, was die Organisation erschwerte. «Welche Fahrer setzen wir wo ein? Wie planen wir das Budget? Diese Fragen haben uns beschäftigt», sagt Meyer. Für die Vuelta, die dritte Grand Tour neben Giro und Tour, hat sich Tudor nicht beworben. «Das wäre zu viel geworden», sagt er.
Denn der Betrieb des Teams lief normal weiter. Nach dem Giro startete Tudor auch noch am U-23-Rennen der Italien-Rundfahrt, bestritt Wettkämpfe in Dänemark und Belgien sowie die Tour de Suisse. Meyer sagt: «Wir liefen phasenweise am Limit. Unsere Struktur musste vieles auffangen.» Das gehe bis zu der Mitarbeiterin, welche die Spesenbelege kontrolliere und plötzlich viel mehr Arbeit zu bewältigen gehabt habe.
Die Tour ist für Tudor ein Schaufenster – mit Vor- und Nachteilen. Einerseits steigen die Erwartungen von Sponsoren, andererseits erleichtert die Teilnahme die Suche nach Geldgebern. Kurz vor dem Start verkündete Tudor eine Partnerschaft mit einer grossen Reederei. Meyer sagt: «Dass wir an der Tour de France vertreten sind, hilft uns in Verhandlungen mit potenziellen Sponsoren.»
Die gelbe Farbe hat Tudor daheim gelassenRespekt hat Meyer davor, einem Detail zu wenig Beachtung zu schenken. «Wir haben eigens ein Auto mit Kühlbox gemietet, damit wir jederzeit genügend Eis haben und die Fahrer sich abkühlen können», sagt Meyer. Er und das Team versuchen, jedes Detail im Blick zu haben, nur nichts zu vergessen, eine Sisyphusarbeit. Meyer will jeden Fehler vermeiden, der die Leistungsfähigkeit der Profis schmälern könnte.
Geht es nach Meyer, soll das Team um Alaphilippe und Marc Hirschi seine Leistungsfähigkeit schon auf den ersten Etappen beweisen. Besonders das hügelige zweite Teilstück am Sonntag mit Ziel in Boulogne-sur-Mer ist auf die Co-Captains zugeschnitten. Meyer sagt, er träume gross, denke in Visionen. In diesen Tagen träumt er von einem Tudor-Fahrer, der in der ersten Woche das Maillot jaune trägt.
Manche Teams lackieren die Velos gelb, sobald einer ihrer Profis Gesamtleader ist. Costa und Meyer haben die gelbe Farbe daheim gelassen. Meyer sagt: «Das machen wir erst, wenn wir in Gelb in Paris ankommen.» Die Träume und die Visionen gehen also nicht so rasch aus.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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