Als Ferdy Kübler «mit Dynamit explodierte» – Am Mont Ventoux entbrannte die Dopingdebatte im Radsport


Der Mont Ventoux ist ein seltsamer Solitär, plötzlich da, irgendwie hineingesetzt in die Provence, die er mit schierer Höhe beherrscht: 1909 Meter. Auf seinem Gipfel lässt er mit Vorliebe die Elemente spielen, das Wetter kann rasant wechseln, hier oben hat das laute Zischen des Mistrals freien Auslauf.
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Der Wind legt bisweilen die Sicht frei auf das Tal der Rhone, die Cevennen und den Luberon im Westen, auf das Pelvoux-Massiv und die Alpen im Osten und auf Marseille, die grosse Stadt in 100 Kilometern Entfernung. Manchmal aber stellt der Mistral die Arbeit ein. Dann übernimmt die Sonne das Kommando, kein Wind bedeutet im Sommer grosse Hitze in der weissen Kalksteinwüste jenseits der Baumgrenze. Diese beginnt hinter dem Chalet Reynard, das auf 1400 Metern Höhe liegt.
Kein Wind und grosse Hitze – so waren die Bedingungen auch am 13. Juli 1967, als der Berg in die Geschichte der Tour de France und des Sports einging. Diese Episode nahm jedoch kein gutes Ende. Denn in den Hängen des Ventoux starb der Brite Tom Simpson. Das war damals ein Fanal.
Am Dienstag ist der Ventoux wieder Teil des Tour-Parcours, zum 18. Mal seit der Premierenüberfahrt im Sommer 1951. Neunmal war der Gipfel das Ziel, so wird es auch in diesem Juli sein. Hinter dem Städtchen Bédoin geht es rechts ab auf die Route départementale 974, die hinaufführt auf den Berg. 1602 Höhenmeter verstecken sich in knapp 22 Kilometern Anstieg von Bédoin bis zur Überfahrt neben einem Observatorium.
Für die Favoriten auf den Gesamtsieg um Tadej Pogacar ist der Dienstag ein vorentscheidender Tag. Sie wollen möglichst keine Zeit verlieren, anderseits aber auch Sekunden oder gar Minuten gutmachen.
Central Press / Hulton / Getty
Die Ausrüstung mag modern und aerodynamisch sein, ein Wettrennen mit dem Rennrad nach oben ist an diesem Berg dennoch eine Grenzerfahrung. Für alle. Denn der Ventoux ist kein Berg wie jeder andere.
Der französische Philosoph Roland Barthes beschrieb den provenzalischen Riesen in seinem Essay «Die Tour de France als Epos» Mitte der 1950er Jahre als angsteinflössendes, überirdisches Hindernis und stellte einen konkreten Bezug zum Radsport her. Der Ventoux sei «ein Gott des Bösen, dem man Opfer bringen muss. Als wahrer Moloch, Despot der Radfahrer, vergibt er niemals den Schwachen, fordert ein Übermass an Leid als Tribut.» Sein «absolutes Klima» mache ihn «zum Terrain der Verdammnis, zu einem Ort der Prüfung des Helden, gleichsam zu einer oberen Hölle».
Viele Episoden haben sich seit 1951 während der Tour-Passagen in den Hängen dieses tributfordernden Molochs abgespielt. Und schon vor dem Sommer 1967 ging es dramatisch zu, vor allem am 18. Juli 1955. Aufgeführt wurde eine Episode von Versuchung und dem Griff zu Hilfsmitteln, die den Sieg bringen und die Qual erleichtern sollen.
Der Franzose Jean Malléjac, Tour-Zweiter des Jahres 1953, erreichte im Sommer 1955 das Ziel in Avignon nicht. Er lag vielmehr plötzlich im unteren Bereich des Ventoux in einem Strassengraben, blasser Teint, die Augen waren geschlossen.
Malléjac wurde vom Tour-Arzt Pierre Dumas erstversorgt. Bald darauf wurde der Bretone mit einem Krankenwagen abtransportiert, er war ausser Lebensgefahr, aber kaum zu bändigen: «Lasst mich los. Ich werde noch gewinnen», schrie er. Dieses Verhalten war auffällig, Dumas vermutete, Amphetamine hätten Malléjac in diesen Zustand versetzt. Er zeigte alle darauf hindeutenden Symptome. Nach seiner Karriere räumte Malléjac ein, dieses Mittel benutzt zu haben.
Amphetamine überbrücken die Müdigkeit, sie erhöhen damit die Leistungsfähigkeit des Körpers, ignorieren seine Warnsignale und lassen den Organismus heisslaufen. Unter Extrembedingungen sind sie eine Gefährdung für Körper und Geist. Verboten war die Einnahme solcher leistungssteigernder Substanzen 1955 allerdings nicht. Erste Dopingkontrollen gab es an der Tour erst 1966.
Neben Malléjac fiel auch noch der Schweizer Ferdy Kübler auf, der Tour-Sieger des Jahres 1950. Es ging ihm nicht gut an jenem 18. Juli 1955. Den höchsten Punkt des Berges erreichte er mit grosser Verspätung, auf der Abfahrt litt er unter Sehstörungen und stürzte mehrmals. Er wollte das Rennen aufgeben, wurde aber von seinem Teamchef zum Weiterfahren überredet. Am Ortseingang von Avignon stürmte Kübler durstig in eine Bar, trank zwei Bier, sprang auf sein Rad, nahm aber die falsche Richtung, worauf ihn Zuschauer aufmerksam machten. Am Abend entschloss sich Kübler zur Aufgabe.
Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» druckte einen Bericht von jenem Tag. Darin wird Kübler zitiert: «Ferdy wird bald explodieren. Ferdy ist mit Dynamit geladen.» Dynamit ist eine Chiffre für Amphetamine.
Mindestens sechs Fahrer zeigten am Abend nach der Etappe über den Ventoux skurrile Symptome. Sie waren völlig erschöpft, «zitterten und brüllten wie die Irren unverständliche Sachen», war am nächsten Tag in der französischen Sporttageszeitung «L’Équipe» zu lesen. Nebenwirkungen des Dynamits. Das alles war eine Art Vorverweis auf die Katastrophe, die sich zwölf Jahre später am Ventoux ereignen sollte.
Keystone-France / Gamma-Rapho / Getty
Der 13. Juli 1967 war der heisseste Tag des Jahres, der kochende Provence-Kegel war nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Ziel in Carpentras. Und kurz vor dem Gipfel war Tom Simpson, der Weltmeister von 1965, einer der Tour-Favoriten, am Ende seiner Kräfte.
Der Deutsche Hennes Junkermann fuhr eine Zeitlang hinter dem nach der Baumgrenze abgehängten Simpson. Im Gespräch erläuterte Junkermann einmal, was er damals wahrgenommen hatte: «Etwa zweieinhalb Kilometer vor dem Gipfel konnte Tom nicht mehr. Er begann zu torkeln. Er fuhr zickzack. Und dann fiel er um, einfach so.»
Simpsons Mechaniker Harry Hall sprang sofort aus dem Begleitauto, eilte zu Simpson und sagte: «Tom, deine Tour ist vorbei.» Doch Simpson wollte wieder aufs Rad. Und bestieg es tatsächlich noch einmal. Kurz danach stürzte er erneut. Und blieb reglos liegen.
Hall begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, ehe Dumas den Ort erreichte. Der Tour-Arzt leitete mit einer Krankenschwester weitere Wiederbelebungsmassnahmen ein, doch Simpson reagierte nicht mehr. Er war bereits tot.
Bei seiner Behandlung entdeckte Dumas drei Röhrchen in Simpsons Trikottasche. Zwei waren leer, eine dieser Ampullen war noch halb gefüllt. Es handelte sich um Tonedron, ein Amphetamin. Im Obduktionsbericht hiess es: «Die von Simpson eingenommene Dosis Amphetamine kann alleine nicht zum Tode geführt haben. Anderseits kann sie ihn dazu gebracht haben, seine Leistungsgrenze zu überschreiten. Und daher einige mit seiner Erschöpfung zusammenhängende Schwierigkeiten hervorgerufen haben.»
Simpsons öffentliches Sterben am Ventoux löste weltweites Entsetzen aus. Eine Dopingdebatte entbrannte. Doch das Rennen ging weiter. Wie jedes Mal, wenn die Tour von einem grossen Skandal oder Schicksalsschlag heimgesucht wurde. Der Ventoux erhielt fortan den von Barthes prophezeiten Ruf als ein Naturereignis, das ein Übermass an Leid als Tribut fordere – bis hin zum Tod.
1968 enthüllte Simpsons Witwe Helen einen Gedenkstein, der knapp einen Kilometer vor dem Gipfel platziert ist. Er ist inmitten einer Steinwüste ein Mahnmal für unnötiges Sterben.
Chris Froomes legendäre Jogging-AktionSpektakulär kehrte der Ventoux 2016, beim vorletzten Besuch der Tour, zurück in die Schlagzeilen. Das Ziel war wegen eines Sturms hinunter zum Chalet Reynard verlegt worden. In der Enge der überfüllten Bergstrassen kam es zum Sturz von drei Fahrern.
Einer von ihnen, Richie Porte, hatte ein vor ihm bremsendes Begleitmotorrad touchiert, krachte auf den Asphalt und riss seine beiden Begleiter mit. Unter ihnen war der Brite Chris Froome, der Mann im gelben Trikot. Sein Rad war zerstört, ein Teamauto fern, also joggte er kurzentschlossen nach oben. Was für ein Bild, was für eine Panikaktion!
Froome erhielt bald darauf ein Ersatzrad, verlor aber viel Zeit und eigentlich auch das Maillot jaune. Doch die Jury entschied in seinem Sinne – kein Zeitverlust für Froome, der später in Paris die Tour gewann.
Am Dienstag wird die Ventoux-Saga fortgesetzt, und Tom Simpson fährt als Phantom mit. Die Erinnerung an ihn wird wieder sehr präsent sein an einem Tag, an dem auch die Fahrer der Gegenwart mit einem «Gott des Bösen» konfrontiert werden.
nzz.ch