Kolumne „Hin und weg“: Die Lust auf Stau

Die Zeit ist ein Luder, und die Freizeit ein noch viel größeres Miststück. Rinnt und rennt sie doch dahin wie die Taschenuhren in Salvador Dalís berühmtem Gemälde, weshalb im Urlaub alles zu optimieren ist. In immer kürzere Trips wird immer mehr reingepackt, und folglich auch in den Kofferraum, vom Stand-up-Paddelboard bis hin zu den drei verschiedenen Fahrrädern und natürlich dem Sack Bücher, die man endlich einmal lesen will. Und wehe, wenn man vor den Uffizien warten muss, obwohl man doch extra das Online-Ticket gelöst hat! Ist ja logisch, nicht anstehen zu wollen, wenn man endlich einmal Zeit für sich und die Familie hat.
Umso mehr verwundert, dass offenbar kaum mehr jemanden so richtig erstaunt, was der ADAC diese Woche veröffentlicht hat: In seiner jüngsten Staubilanz für die insgesamt zwölf Sommerferien-Wochen listet der Club in seiner Funktion als Chronist für den durch Mobilität grassierenden Irrsinn beispielsweise 116 020 Staus mit einer Gesamtlänge von 203 830 Kilometern auf. Das entspricht fünf Mal dem Erdumfang oder locker der halben Strecke bis zum Mond. Und zwar nur in Deutschland. Immerhin hat die Zahl und Länge der Staus im Vergleich zu den Sommerferien des Vorjahres leicht abgenommen. Allerdings ist der dadurch entstehende Zeitverlust für Reisende um insgesamt 7,6 Prozent gestiegen. Nur für die Ferienzeit lässt sich der Zeitverlust pro Kopf zwar nicht errechnen. Doch gemäß einer Auswertung des Verkehrsdaten-Dienstleisters Inrix stand im Jahr 2024 jeder deutsche Autofahrer 43 Stunden im Stau.
Erstaunlich ist bei der ADAC-Analyse außerdem die zeitliche Verteilung. Dass die meisten und zeitraubendsten Blechkolonnen am ersten August- und letzten Juli-Wochenende entstehen, wäre noch zu erwarten gewesen. Doch staut es sich auf deutschen Autobahnen – wie schon in den Vorjahren – an Freitagen mittlerweile ungefähr doppelt so oft wie am Samstag, dem einst klassischen An- und Abreisetag und mittlerweile stauärmsten Wochenend-Tag. Begründet wird dies unter anderem mit einer höheren Flexibilität und mehr Kurzurlauben, die zu einer Verlagerung der schlimmsten Stauzeiten und insgesamt zu einer höheren Auslastung auf den Autobahnen führten. Außerdem würden Reisende immer häufiger auf Schlechtwetter reagieren und ihre Urlaube abbrechen.
An dieser Stelle drängt sich nicht nur die Schlussfolgerung auf, dass viele Deutsche offenbar lieber einen Stau als schlechtes Wetter aussitzen. Es stellen sich angesichts derart vieler verfügbarer ADAC-Daten, jeder Menge technischer Hilfsmittel und Internet-Tipps (Hauptverkehrszeiten meiden, Stau-Apps prüfen, Bahn fahren) mehrere Fragen: Warum vermeidet der deutsche Urlauber trotz all seiner Flexibilität den Stau nicht einfach? Hegen wir bei all dem Zeitoptimierungsdrang doch eine heimliche Sehnsucht nach mehr Stillstand zwischen den nächsten Uffizien- und Rennrad-Einheiten? Oder sind wir gar eine Nation, ach was, eine Welt aus lauter Stau-Masochisten geworden, die sukzessive ihre Dosis an Stau-Schmerz erhöhen müssen?
Wer noch immer lieber freie Fahrt hat, kann ja demnächst in den Kurzurlaub fahren. Erfahrungsgemäß ist der Reiseverkehr an den kommenden Wochenenden nicht mehr ganz so schlimm wie in der Ferienzeit. Noch jedenfalls.

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