Russland: Wirtschaft steckt tief in der Krise


Tausende Vorgängermodelle auf den Halden: Präsentation des neuesten Lada-Modells, doch die Nachfrage fehlt
Foto: Anatoly Maltsev / EPAIn Russland, dem Staat mit der potenziell größten Anbaufläche für Landwirtschaft, sind Kartoffeln und Zwiebeln ausgegangen. Das Defizit hat sogar Präsident Wladimir Putin (72) bemerkt. „Es hat sich herausgestellt, dass uns Kartoffeln fehlen“, klagte der Kremlchef vor wenigen Wochen. Auch bei Zuckerrüben und einigen Gemüsesorten gebe es Engpässe, räumte er ein.
Zuvor waren die Preise für Kartoffeln in den russischen Geschäften durch die Decke gegangen. Innerhalb des vergangenen Jahres haben sie sich offiziellen Angaben zufolge fast verdreifacht, der Preis für Zwiebeln verdoppelt. Kohl kostet über 50 Prozent mehr als vor einem Jahr, hat die Statistikbehörde Rosstat ausgerechnet. Gefühlt ist der Anstieg sogar noch höher.
Lebensstandard sinkt spürbarEtwas mehr als einen Euro mussten die Russen im Juni für ein Kilo Kartoffeln ausgeben. Bei Durchschnittseinkommen von laut Rosstat knapp 1000 Euro vor Steuern und bei Renten von etwas mehr als 200 Euro ist das nicht wenig. Die anziehenden Lebensmittelpreise sind einer der Haupttreiber der Inflation in Russland. Derzeit liegt die laut Wirtschaftsministerium bei 9,6 Prozent.
Die Zentralbank versucht, die Inflation mit einem hohen Leitzins unter Kontrolle zu bringen – derzeit sind es 20 Prozent. Das Kalkül dahinter: Wird es wegen der hohen Zinsen schwieriger, Kredite aufzunehmen, sinkt die Geldmenge, die im Umlauf ist. Weniger Geld bedeutet weniger Nachfrage und sinkende Inflation.
Wirtschaftsminister wird ungewohnt deutlichDoch damit ist Russland nun auf weitere Komplikationen gestoßen. Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow (45) hat auf Putins großer Schaubühne, dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg (SPIEF), ungewöhnlich deutlich vor Problemen für die einheimische Wirtschaft gewarnt: „Den Zahlen nach haben wir eine Abkühlung, den aktuellen Empfindungen der Unternehmer nach sind wir schon an der Grenze zum Übergang in eine Rezession“, sagte er.
Das derzeitige Zinsniveau demotiviere Unternehmer zu investieren, sagte Reschetnikow. Im dritten und vierten Quartal könnten die Investitionen nach Schätzung des Ministers unter dem Vorjahresniveau liegen.
Ressourcen aufgebrauchtZentralbankchefin Elwira Nabiullina (61) wehrte sich gegen den Vorwurf einer falschen Geldpolitik, aber auch sie prognostizierte Schwierigkeiten. Russlands Wirtschaft sei zwei Jahre lang trotz der Sanktionen durch Programme zur Importverdrängung gewachsen – dank Geldern aus dem Wohlstandsfonds und bestehenden Kapitalreserven des Bankensystems. „Wir müssen verstehen, dass viele dieser Ressourcen tatsächlich aufgebraucht sind, und wir müssen über ein neues Wachstumsmodell nachdenken“, sagte sie.
In der Tat hat sich die russische Wirtschaft nach dem von Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine erstaunlich gut gehalten – trotz der westlichen Strafmaßnahmen. In erster Linie ist dies auf eine rigorose Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion zurückzuführen. Der Putin-Vertraute Sergej Tschemesow (72), der die Rüstungsindustrie leitet, brüstete sich zuletzt mit einer Steigerung bei Munition und Waffen um das „Zigfache gegenüber 2021“.
Kritiker bemängeln, dass die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Russland nicht das Potenzial der Wirtschaft widerspiegele, neue Waren für die Bürger oder einen wachsenden Lebensstandard herzustellen. Vielmehr zeige es nur an, dass die von Haushaltsgeldern finanzierte Rüstungswirtschaft immer mehr Drohnen, Raketen und Panzer produziere.
Zivile Sektoren hingegen kränkeln seit geraumer Zeit. Sie kämpfen mit hohen Kosten, Personalmangel und technologischem Rückstand, der sich durch die Sanktionen nur noch manifestiert. Der Bau- und Immobiliensektor steckt etwa tief in der Krise. Auch der Autobau stockt, seitdem westliche Produzenten und Zulieferer Russland den Rücken zugewandt haben. China verkauft zwar vermehrt Autos in Russland, produziert aber vor Ort nicht selbst.
Stillstand bei AutomobilenDer zum Tschemesow-Imperium gehörende Lada-Produzent Awtowaz konnte die von westlichen Autobauern hinterlassene Lücke nicht füllen. Auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg stellte der Konzern zwar den Lada Azimut vor, der ab kommendem Jahr in Serienproduktion gehen soll. Doch auf den Halden stehen noch Tausende Vorgängermodelle, die niemand haben will.
Die Nachfrage nach Neuwagen ist nach einem Zwischenhoch 2024 erneut eingebrochen. In den ersten fünf Monaten wurden insgesamt nur rund 450.000 Fahrzeuge abgesetzt, ein Minus von 26 Prozent. Awtowaz prognostiziert auch für das Gesamtjahr einen Rückgang von 25 Prozent.
Krise auch beim Landmaschinenbauer Rostselmasch. Der Produzent von Mähdreschern und Traktoren hat gerade mehr als 15.000 Mitarbeiter in Zwangsurlaub geschickt. Ob sie die Arbeit je wieder aufnehmen können, ist unklar. Schon im März wurde Kurzarbeit in der Fabrik angesetzt, im April wurden 2000 Arbeiter entlassen.
Paradox: Auch Rostselmasch kann nicht vom weitgehenden Rückzug der westlichen Konkurrenz profitieren. Der Absatz bei Mähdreschern stockt: Dem Markteinbruch von 20 Prozent im vergangenen Jahr folgte ein Minus von 10 bis 15 Prozent in diesem Jahr bisher. Im Lager von Rostselmasch stauen sich 40 Prozent der Jahresproduktion. Den Bauern fehlt das Geld für neue Technik. Hohe Kreditzinsen und steigende Produktionskosten machen ihnen zu schaffen.
Und das hat Auswirkungen auf die Ernte. Im ersten Kriegsjahr 2022 hatte Putin noch stolz von einer Rekordernte berichtet. In diesem Jahr hatten die Bauern 157 Millionen Tonnen Getreide eingebracht. Seitdem sanken die Erträge spürbar.
Zwar hat der Kremlchef angeordnet, bis 2030 die Getreideernte auf 170 Millionen Tonnen und den Export auf 80 Millionen Tonnen hochzufahren. „Aber ausgehend von den jüngsten Tendenzen geht die Bewegung bei uns in die entgegengesetzte Richtung“, warnte der für den Agrarsektor verantwortliche Vizepremier Dmitri Patruschew (47). Dies müsse schnell korrigiert werden.
Immerhin hofft die Regierung auf eine bessere Ernte als im Vorjahr. Die Kartoffeln sollen dabei schon ab kommender Woche aus der Erde geholt werden. Durch das steigende Angebot könnten die Preise vorläufig wieder fallen.
Ansonsten muss Putin auf das Rezept seines langjährigen Verbündeten zurückgreifen, des als „Kartoffeldiktator“ verschrienen Machthabers von Belarus, Alexander Lukaschenko (70). Der hatte seinen Untertanen vor ein paar Tagen empfohlen, Kartoffeln nur noch ein- oder maximal zweimal pro Woche zu essen. Ansonsten würden sie zu dick, sagte Lukaschenko.
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