Krieg endete bereits am 7. Mai: Haben wir 80 Jahre lang falsch gefeiert?

Zum Kriegsende in Europa zeigt das AlliiertenMuseum in Dahlem eine Ausstellung, in welcher die Kapitulation Deutschlands 1945 neu beleuchtet wird. Die Ausstellung steht offenbar im Zusammenhang mit aktuellen Bemühungen um Aufklärung über den tatsächlichen Ablauf der Kapitulation: Es geht darum klarzumachen, dass die Deutschland nicht am 8. Mai 1945 in Karlshorst vor den Sowjets kapitulierte, sondern bereits am 7. Mai im französischen Reims.
Unterzeichnung vor Eisenhowers Vertretern in Reims
Mitten in der Nacht, am 7. Mai 1945 um 2.41 Uhr im Kartensaal im ersten Stock einer ehemaligen Schule in Reims die erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte. Die Schule war laut der Darstellung des französischen Verteidigungsministeriums die Kommandozentrale von General Dwight Eisenhower und dem Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces (SHAEF). Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, war für die Deutschen nach Reims geholt worden. General Walter Bedell-Smith, Generalstabschef des SHAEF unterzeichnete die Kapitulationsurkunde im Namen der westlichen Alliierten. Danach unterzeichnete der sowjetische General Ivan Sousloparov im Namen der Roten Armee und schließlich wurde der französische General François Sevez, stellvertretender Generalstabschef der nationalen Verteidigung aufgefordert, die Urkunde in seiner Eigenschaft als einfacher Zeuge gegenzuzeichnen, da das Ereignis auf französischem Boden stattfindet. Alfred Jodl unterzeichnet im Namen der Streitkräfte des Dritten Reichs. Eisenhower, der einen höheren Rang als Jodl bekleidet, blieb der Unterzeichnung fern. Jedoch empfängt er die deutsche Delegation danach in seinem Büro, gefolgt von der Presse und seinen Mitarbeitern, mit denen er mit einem Glas Champagner anstößt, bevor er seine berühmte Siegesrede hält.

Stalin besteht auf Karlshorst
Marc Hansen, Politikwissenschaftler und Militärhistoriker aus Kiel, erläuterte zur Eröffnung am Dienstagabend der Ausstellung die Bedeutung der Zeremonie: „Der sowjetische Vertreter am SHAEF, Generaloberst Iwan Susloparow musste die Entgegennahme der Kapitulation seitens der UdSSR allerdings ohne konkrete Genehmigung des sowjetischen Oberkommandos durchführen. Seine Bitte um rechtzeitige Bereitstellung von entsprechenden Direktiven fand in Moskau kein Gehör. Und dies wohl nicht ganz unabsichtlich. Denn Stalin erklärte im Nachhinein, er würde den Reims-Akt zwar akzeptieren – dies jedoch nur unter dem Vorbehalt der Forderung nach einer Wiederholung des Kapitulationsaktes - unter formeller sowjetischer Kontrolle.“ Die Wehrmacht musste daher ein weiteres Mal kapitulieren: Am 9. Mai wurde um 0:16 Uhr in Berlin Karlshorst die zweite bedingungslose Kapitulation unterzeichnet.
Hansen sagte in Dahlem: „Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa im Mai 1945 markierte nicht den Beginn einer friedlichen Nachkriegsordnung, sondern vielmehr die Ausgangslage für den sich rasch formierenden Systemkonflikt zwischen West und Ost. Die Anti-Hitler-Koalition aus den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und Frankreich war von Beginn an keine ideologisch homogene Gemeinschaft, sondern ein Zweckbündnis gegen einen gemeinsamen äußeren Feind – das nationalsozialistische Deutschland. Mit dessen militärischer Niederlage fiel dieses Bündnis auseinander. Die politische Realität ab dem Frühjahr 1945 war daher nicht von Kooperation geprägt, sondern von beginnender Konkurrenz.“
Konfrontation schon von allem Anfang an
Hansen, sagte, die Kapitulationen von Reims und Karlshorst und der Umgang mit ihnen durch die Siegermächte „markierten somit nicht das nur Ende des Krieges, sondern auch den Beginn einer neuen Ära geopolitischer Konfrontation“. Die westlichen Alliierten hätten direkt nach dem Krieg noch ein relativ einheitliches „Siegermächte-Narrativ“ verfolgt, welches betonte, „dass die Achsenmächte gemeinsam besiegt wurden“. In den USA und Großbritannien hingegen wurde die Reims-Kapitulation im Lauf der Zeit „immer stärker betont, um die Führungsrolle der westlichen Alliierten bei der Beendigung des Krieges zu unterstreichen“.
Hansen weiter: „Sie nahmen die sowjetische Deutung von Karlshorst weitgehend hin, um den Prestigeanspruch der UdSSR nicht zu gefährden – eine politische Entscheidung im Sinne der Kooperation im besetzten Deutschland.“ Hansen: „Die westliche Erinnerungskultur stellte in diesem Zusammenhang die militärischen Siege in der Normandie, den Vormarsch der Westalliierten und die Befreiung Westeuropas in den Mittelpunkt.“
Frankreich, das formal nicht an der Reims-Kapitulation beteiligt war, profitierte sogar von der Karlshorster Inszenierung, da es hier als gleichberechtigter Akteur auftrat.

Sowjets liefern bessere Inszenierung
Mit dem Fortschreiten des Kalten Krieges hätten die ehemaligen Alliierten dann aber damit begonnen, „die Erinnerung an die Kapitulationen zunehmend für eigene politische Zwecke zu nutzen“: Während Karlshorst „im sowjetischen Block weiterhin als die einzig wahre Kapitulation dargestellt wurde, nutzten die USA und die Westeuropäischen Siegermächte zunehmend Reims als ihre Kapitulationserzählung“.
Doch laut Hansen haben sich beim Transport der historischen Bilder durchgesetzt: „Die nahezu ausschließliche Bildüberlieferung aus Karlshorst hat unser kollektives Bild vom ‚Ende des Zweiten Weltkriegs‘ maßgeblich geprägt – während Reims, obwohl juristisch zuerst und ebenso gültig, kaum präsent ist. Denn – nur die Bilder aus Karlshorst entwickelten sich zu visuellen Ikonen der Kapitulation – initiiert und unterstützt durch eine gezielte sowjetische Bildpolitik.“
Zu dieser Bildpolitik zählte laut Hansen vor allem die perfekte Inszenierung der Kapitulation in Karlshorst: „In Karlshorst wurde alles für ein erinnerungspolitisch wirksames Bildarrangement getan: der Ort – ein Offizierskasino –, die Lichtverhältnisse, die kamerawirksame Inszenierung des Aktes“. Vor allem ab sei Feldmarschall Wilhelm Keitel bewusst ausgewählt worden, obwohl er keine militärisch operative Funktion innehatte. Sein Äußeres haben ihn zur „geradezu perfekten, Symbolfigur des untergehenden deutschen Militarismus“ empfohlen: „Sein Monokel, seine gebeugte Haltung aufgrund der Körpergröße, die Szene des Unterschreibens wurden zur Ikone der deutschen Unterwerfung. Es war kein Zufall, dass die sowjetische Bildpropaganda ihn in den Mittelpunkt stellte, und nicht Dönitz oder Jodl.“
Nur logisch: Keine Russen beim Gedenken
Die sowjetische Führung sorgte für fotografische und filmische Dokumentation, die gezielt international verbreitet wurde. Karlshorst wurde damit nicht nur der ‚zweite‘ Kapitulationsort, sondern der visuell erinnerte – eine Inszenierung der Siegerrolle der Sowjetunion als entscheidende Kraft der Befreiung Europas
An der Eröffnung der Ausstellung im AlliiertenMuseum nahmen der US-amerikanische Geschäftsträger in Deutschland, Alan Meltzer, der britische Botschafter Andrew Mitchell und der französische Gesandte Emmanuel Suquet teil. Ein russischer Vertreter war nicht geladen.
US-Geschäftsträger fordert mehr Geld für Verteidigung
Meltzer sagte, Wiederaufbau und Versöhnung seien „ohne eine bedeutsame Entschlossenheit, die uns voranbringt, unvollständig“. Diese Entschlossenheit umfasse „die klare Verpflichtung, das zu verteidigen, was wir und unsere Verbündeten gemeinsam aufgebaut haben“. Mehrere Millionen Amerikaner hätten an der Seite der anderen Verbündeten in Europa gekämpft, „um Faschismus und Tyrannei zu stürzen“. Meltzer weiter: „Wenn uns die Vergangenheit eine Lehre lehrt, dann die, dass wir Aggressionen nur durch Stärke abwehren können“. Wie die Trump-Administration deutlich gemacht habe, „sind alle NATO-Verbündeten in diesem Moment aufgerufen, mehr zu tun, um die Last unserer gemeinsamen Verteidigung zu teilen“, so Meltzer.
AlliiertenMuseums-Chef Jürgen Lillteicher sagte, Russland habe mit seinem Angriff auf die Ukraine die europäische „Friedensordnung zerstört“. Daher sei „ein gemeinsames Gedenken mit Russland leider nicht möglich“. Ein Frieden sei nicht in Sicht, der Angriff Russlands und das Erstarken „rechtsextremer Kräfte“ in Europa unterstreiche, dass die Nato heute „eine enorme Bedeutung“ habe.

Für die West-Aufklärung über die Bedeutung von Reims gibt es aktuell einige Anstrengungen. So drehte der Filmemacher Wim Wenders, vom Bundesaußenministerium finanziert, einen vierminütigen Film. Der Film soll die Bedeutung von Reims als Gegen-Narrativ zur sowjetischen Lesart ins rechte Licht rücken und damit ins Bewusstsein der nächsten Generationen bringen:
Berliner-zeitung