80 Jahre Potsdamer Konferenz: Rache oder Gnade? Die Großen Drei und Deutschlands Schicksal

Sechs Wochen nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands trafen sich die Sieger zur Neuordnung der Welt. Der Krieg war noch nicht zu Ende, noch immer kämpften im Fernen Osten Hunderttausende Soldaten. Japan, soeben noch Verbündeter Nazideutschlands, stemmte sich gegen die unvermeidliche Niederlage. Die Potsdamer Konferenz begann am 17. Juli 1954 und endete am 2. August mit der Bekanntgabe des Potsdamer Abkommens.
Die Berliner Zeitung druckte das mit Spannung erwartete Dokument am 4. August im Wortlaut auf drei Seiten nach. So erfuhren die Berlinerinnen und Berliner, was ihnen, was den Deutschen, bevorstand. Mitzureden hatten sie nichts mehr. Die Unterzeile erfasste das Wesentliche: „Das deutsche Volk erhält die Möglichkeit, sein Leben auf demokratischer und friedlicher Grundlage wiederherzustellen.“
Von einer Nachricht, die die Welt in eine neue Zeit katapultierte, erfuhren sie und die Weltöffentlichkeit zunächst nichts: Denn von Potsdam aus hatte US-Präsident Harry Truman am 25. Juli den Befehl zum ersten Einsatz einer Atombombe gegeben. Sie sollte vier Tage nach dem Ende der Konferenz aus einem amerikanischen Bomber auf die japanische Stadt Hiroshima fallen. Wie der Befehl aus Potsdam zustande kam, wird als Fortsetzung zu diesem Artikel in Kürze beschrieben.
Einstimmung im FührerbunkerTruman, der sowjetische Staatschef Josef Stalin und der britische Premier Winston Churchill trafen sich in der sowjetischen Besatzungszone. Gastgeber Stalin hatte den unzerstörten, zeitweilig als Lazarett genutzten Hohenzollern-Landsitz Schloss Cecilienhof in Potsdam als Tagungsort herrichten und – von Truman sehr wohl bemerkt – im Innenhof das signalstarke Beet in Form des Sowjetsterns mit roten Geranien, Hortensien und Rosen anlegen lassen. Die drei Delegationschefs residierten nah beieinander in Villen im etwa fünf Kilometer entfernten Neubabelsberg. Die Herren und ihre Stäbe sollten es ruhig und komfortabel haben, mit viel Grün.
Das Trümmerfeld Berlin besichtigte Truman am Morgen nach seiner Ankunft am 15. Juli. Er war per Kriegsschiff bis Antwerpen gereist, dann im Flugzeug bis Berlin-Gatow. In seinen Memoiren erwähnt er speziell „die berühmte Autobahn“, über die seine Autokolonne in die Reichshauptstadt zu den Ruinen von Hitlers Reichskanzlei rollte.
In seinen Memoiren resümierte er: „Eine derartige Zerstörung habe ich nie wieder gesehen.“ – „So musste es kommen, wenn ein Mensch kein Maß kennt.“ Er sah die Reichstagsruine und „andere vor dem Krieg berühmte Stätten“, die nunmehr zu einem „Haufen von Schutt und Gestein“ geworden waren.

Churchill war am Vortag durch die zerstörten Säle und Korridore der Reichskanzlei gegangen und hatte sich von seinen russischen Begleitern in den Führerbunker geleiten lassen: Er stieg ins unterste Stockwerk hinab, in den Raum, in dem sich Hitler das Leben genommen hatte, und ließ sich vor dem Bunker die Stelle zeigen, wo man seine Leiche verbrannt hatte: „So nahm ich an Ort und Stelle die beste zu jener Zeit erhältliche Schilderung des letzten Teils der Tragödie entgegen“, notierte er in seinen Erinnerungen und fügte von aller Anspannung gelöst hinzu, dass sein Hass verflogen sei, seit Deutschland den Kampf aufgegeben hatte.
Derart eingestimmt traf man sich am Abend des 17. Juli zur ersten Konferenzrunde. Stalin bat Truman, die Versammlungsleitung zu übernehmen, Churchill stimmte zu. Noch kurz vor der Ankunft hatte der 61 Jahre alte US-Demokrat an Mutter und Schwester geschrieben, diese Reise sei ihm „sehr zuwider“, aber leider unumgänglich. Nach der ersten Sitzung, es ging zunächst um die Abstimmung der zu besprechenden Themen, notierte er: „Ich war in Potsdam, um etwas zu erreichen. Würde sich das als unmöglich erweisen, beabsichtigte ich nach Hause zu gehen.“
In Potsdam schenkten die „Großen Drei“ einander nichts, aber der Ton blieb höflich. Truman erfüllte in Potsdam seine Pflicht. Allerdings war Stalin im Vorteil – nicht weil die Konferenz in der sowjetischen Besatzungszone stattfand, sondern weil der 67 Jahre alte sowjetische Staatschef bereits seit 1927 ein schwieriges Land regierte und schon die Vorläuferkonferenzen von Teheran 1943 und Jalta (Februar 1945) mitgestaltet hatte. Truman war erst seit Mitte April 1945 im Amt. Der gewiefte britische Premier Winston Churchill verlor mitten in der Konferenz nach Unterhauswahlen sein Amt; der weit weniger erfahrene Labour-Politiker Clement Attlee übernahm.
Zeitverzögert und voller Spannung verfolgte Thomas Mann im kalifornischen Exil die Nachrichten aus Deutschland. Der erste Tagebucheintrag vom 21. Juli klingt enttäuscht: „Sehr komischer Bericht aus Potsdam über Truman, der Stalin und Churchill Klavier vorspielt.” Die kleine Szene vom Versuch, persönliche Beziehungen aufzubauen, findet sich auch in Trumans Memoiren. Dieser, ein begeistert Laienmusiker, vermerkt, Churchill habe ihm zwar zugehört, aber „Musik schätzte er nicht sonderlich – wenigstens nicht die, die ich liebte“.
In der seit sechs Wochen erscheinenden Berliner Zeitung sind keine belangvollen Berichte zum Ablauf der Konferenz zu finden, allenfalls der Nachdruck eines Prawda-Leitartikels, der die sowjetische Position darlegt. Waren die Berliner Journalisten unfähig, standen sie unter russischer Zensurknute? Des Rätsels Lösung findet sich bei Truman ebenso wie bei Churchill.
Reparationen und „die polnische Frage“Letzteren trieb schon am zweiten Konferenztag die Frage um, wie mit den „180 aufgebrachten Journalisten“ umzugehen sei, die sich außerhalb des Konferenzgeländes herumtrieben und sich „in der Weltpresse fürchterlich beklagen, dass ihnen jede Information vorenthalten“ werde. Um deren „gesträubtes Gefieder zu glätten“, bot sich Churchill an, den Plagegeistern zu erklären, dass die Konferenz in Ruhe arbeiten wolle. Stalin lehnte alles ab. Truman fand, das sei Sache der Pressestäbe. Churchill fügte sich, hielt die Entscheidung aber für falsch.
Das Verhandlungspensum in Potsdam umfasste eine riesige, weltumspannende Vielfalt von Themen. Sie reichten von Italien über Griechenland und Rumänien bis, Franco-Spanien, von den Kolonien über die Ernährungssicherung bis zur Aufteilung der deutschen Flotte, der Entnazifizierung und Umerziehung der Deutschen. Als heißeste Themen erwiesen sich wenig überraschend die sowjetischen Forderungen nach Reparationen und die „polnische Frage“.
Der Verlauf der sowjetischen Westgrenze war bereits in Jalta geklärt worden und entspricht ungefähr den heutigen Grenzen Polens mit Litauen, Belarus und der Ukraine. Die Frage, wie groß die - zum Ausgleich für im Osten an die Sowjetunion gefallenen Gebiete Polens -zuzusprechenden ehemals deutschen Territorien sein sollten, führte zum heftigen Streit zwischen den drei Staatsführern.
Stalin bestand darauf, das Gebiet um Danzig Polen zuzusprechen und die polnische Westgrenze an die Oder-Neiße-Linie zu legen, wobei er nicht die östliche (Glatzer) Neiße meinte, sondern die westliche. Dazwischen lag ein bis dahin weit überwiegend deutsch besiedeltes Gebiet. Die Westverschiebung Polens schuf für rund vier Millionen Polen, die dann aus den ehemals polnischen Ostgebieten umgesiedelt wurden, eine neue Heimat.
Allerdings trieb Churchill die Sorge um, was mit den acht Millionen Deutschen geschehen solle, die den polnischen Neuankömmlingen weichen müssten, und er stellte entsprechende Fragen: Könne Rumpfdeutschland so viele Flüchtlinge aufnehmen? Wie sollte man die Menschen ernähren, zumal die wichtigsten agrarischen Überschussgebiete in den von Deutschen zu räumenden Landesteilen lägen? Wer würde die Flächen bestellen?
Sowjetunion deckt polnische Ansprüche abStalin blieb hartnäckig: Die besetzten ehemals ostdeutschen Gebiete würden „von Polen bewohnt und bebaut“. Ebenso sprach er hinsichtlich der schlesischen Kohlebergwerke: Die einstigen Besitzer seien geflohen, Polen förderten die Kohle. Auch Truman widerstrebte die Vorstellung von gigantischen „Dislotionen“.
Er hielt es jedoch für eine bereits unumstößlich gewordene Tatsache, dass Ostdeutschland an Polen abzutreten sei, und bestand lediglich darauf, die endgültige Grenzziehung einem Friedensvertrag zu überlassen. Der kam erst 1990 zustande, im Rahmen des sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrages, geschlossen zwischen den vier Alliierten, der BRD und der DDR. Es blieb bei der Oder-Neiße-Linie, auch wenn sich Bundeskanzler Helmut Kohl heftig dagegen sträubte.

Die Frage der Reparationen findet ihr Echo bis heute in Ost-West-Debatten. In den Potsdamer Dokumenten ist zu erkennen, dass sie eng mit den Einteilungen der Besatzungszonen zusammenhing. Das schließlich unterzeichnete Potsdamer Abkommen regelt die Reparationen nach dem Grundsatz: Jede Besatzungsmacht deckt ihre jeweiligen Reparationsansprüche aus ihrer Zone. Die Höhe blieb offen.
Die Sowjetunion, die den weitaus höchsten Schaden durch den deutschen Raub- und Vernichtungskrieg erlitten hatte, griff am stärksten zu und erhielt auch Anteile aus deutschen Auslandsguthaben. Zusätzlich sollten ihr Leistungen aus den westlichen Zonen zustehen, zum Beispiel 15 Prozent der verwendungsfähigen Ausrüstungen der Metall- und Chemieindustrie sowie aus dem Maschinenbau – allerdings im Austausch gegen Nahrungsmittel, Kohle, Kali, Zink, Holz und andere Rohstoffe und versehen mit dem interpretierbaren Zusatz: soweit für die deutsche Friedensproduktion verzichtbar. Besonders interessant für heutige Debatten ist auch die folgende Bestimmung: „Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen.“
Thomas Mann: „Ein chokanter Plan“Als Thomas Mann die Ergebnisse der Konferenz las, verging ihm die Lust an Scherzchen über Klaviersdarbietungen. Am 3. August schrieb er: „In den Blättern das Potsdamer Dokument. Erschüttert, trotz allem, von den Verfügungen über Deutschland. Die unsinnige Vergrößerung Polens bis zur Oder. Die Massen-Dislozierungen ins verengerte Land, in an orderly and decent way. Die Reduzierung auf einen Agrarstatus (bei Abtrennung der Haupt-Agrargebiete) mit etwas harmloser Industrie für den Selbstgebrauch. Beabsichtigt wahrscheinlich die Reduzierung der Bevölkerung auf 40 oder so Millionen.“ Er fand den Plan „chockant“. Noch zwei Wochen später notiert Thomas Mann: „Niedergedrückt von den Potsdamer Beschlüssen.“
Ganz anders Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur der Berliner Zeitung, in seinem Leitartikel vom 4. August. Er schrieb unmissverständlich: „Die territorialen Veränderungen im Osten sind nicht zu verstehen, ohne die Mitschuld des ganzen deutschen Volkes einzusehen.“ Die Deutschen hätten von Hitlers Schandtaten gewusst, 1936, 1937, 1938 sei durch alle Schichten des deutschen Volkes ein Raunen gegangen: „Wenn das nur gut geht!‘ – Es konnte nicht gut gehen!“
Und weiter: „Es wuchs sich aus zu jenem Umlegen ganzer Völker.“ Diese verlangten nun „als eine minimale und unzulängliche Sicherung dagegen, (…) dass nicht eines Tages der deutsche Imperialismus, von Königsberg und Breslau aus marschierend, die nächste vervollkommnete Batterie von Krematorien zwischen ihre Dörfer pflanze.“ Herrnstadt erkannte in den Vereinbarungen von Potsdam das „im Grundriss vorliegende Deutschland von morgen“ und beschwor den Aufbruch in eine bessere Zukunft: „Nun ist es an uns, es zu schaffen.“
Berliner-zeitung