Warum wollen Sie ewig leben, Heinz Rudolf Kunze?

Hallo Herr Kunze, ein neues Album kommt. Gerade aber dreht sich noch alles um „Dein ist mein ganzes Herz“. Vor 40 Jahren begann mit diesem 5. Album die Hitphase Ihrer Karriere. Der Liedermacher Kunze wurde zum Rockstar Kunze, hatte auf dem Cover eine Gretsch-Gitarre und sprang wie Chuck Berry. Was wurde damals anders und war das von Anfang an der Plan?
Ja. Ich hatte bloß nicht die geringste Ahnung, wie man das macht. Mein Freund und Gitarrist Mick Franke wusste das auch nicht. Er war ein guter zweiter Sänger, ein brauchbarer Gitarrist auf der Akustikgitarre, konnte Bouzouki und Mandoline, aber nicht mit der E-Gitarre rocken. Ich brauchte einen Gitarristen, der mich so weiterbringen konnte, wie Rocco (Klein, Anm. d. Red.) Klaus Lage weitergebracht hat. Es war mir klar, dass ich ohne so jemand vielleicht nur ein skurriler ‚novelty act‘ bleiben würde.
Ein Liedermacher.
Naja, wir waren schon auch laut. Wir machten den verrückten Spagat zwischen Liedermacherei und Neuer Deutscher Welle. Auf den ersten Alben war zum Teil sehr bizarre Musik. Aber ich wollte das machen, was sich Deutschrock nannte, als NDW auslief. Ich wollte mehr Erfolg. Dann nahm mich Peter Köpke von der WEA (Plattenfirma, Anm. d. Red.) beiseite und sagte: ‚Das kannst du auch. Aber du musst eine schmerzhafte Sache machen – du musst Mick loswerden‘. Was sehr schwer war. Jemand hatte dann Heiner Lürig in seinem Adressbuch. Und dann änderte sich alles, weil der als Morgengabe diese Nummer dabeihatte.
„Dein ist mein ganzes Herz“
Heiner spielte mir eine englische Version mit einer schwarzen Sängerin vor, die ihm selbst nicht behagte, weil das so ein zusammengeschustertes Stoppelenglisch war. Er meinte: ‚Probier du das doch mal.‘ ‚Ja, wie – soll ich da nen Text drauf machen?‘ ‚Ja klar!‘ ‚Mach’ ich aber normalerweise andersrum‘ ‚Dann versuch’s doch mal so rum‘. Und dann wurde gerade das der größte Erfolg. So viel zum Wert von Texten. (lacht)
Wurden Sie von den Fans der Liedermacher-Szene damals niedergemacht – wie Dylan beim Newport-Festival?
Judas? Ein einziges Mal. Diese radikale Ausnahme war auf der „Herz“-Tour 1985, wo mir ein empörter Hardcore-Fan aus der ersten Reihe ein blutendes Rinderherz an die Brust warf. Kaum zu glauben, wie groß so ein Rinderherz ist. (lacht) Das war ein deutliches Judas-Zeichen. Ich habe mich abgewischt und weitergespielt. Es gibt Kollegen, die rasten bei sowas aus. Das war nie meine Art. Außerdem hatte ich Angst, dass er stärker ist als ich.
War Ihnen mulmig, als das Album rauskam?
Natürlich. Ich dachte, dass es vielleicht zu gassenhauerisch geraten ist. Ich dachte: Das muss ein Hit werden. Wenn das schiefgeht, habe ich mich blamiert.
Was wäre ohne „Dein ist mein ganzes Herz“ anders gelaufen?
Alles. Ich weiß nicht, ob mir die WEA einen weiteren, großzügigen Fünfjahresvertrag gegeben hätte, wäre das „Herz“-Album unter dem Arbeitstitel „Brennende Hände“ erschienen und hätte kein „Herz“ gehabt. Fünf Jahre Musik – danke schön, auf Wiedersehen, zurück ins normale Leben. Und Lehrer werden – um Gottes Willen! Oder an der Uni als Assistent unterkommen. Das war ja eigentlich mein Plan gewesen: Irgendwann mal Professor zu werden für Neuere Deutsche Literatur.
In Hannover war bei der 40-Jahre-„Herz“-Jubiläumstour Heiner Lürig nach mehr als 15 Jahren wieder mit auf der Bühne.
Das war Nostalgie und Freundschaft und mehr. Denn natürlich hat Heiner Lürig als Komponist sehr viel mit diesem Jubiläum zu tun. Er war angespannt und dann hochfokussiert. Wir haben danach noch ein wenig gefeiert – in der Garderobe. Denn seit Corona macht die Bar ja auch in guten Hotels gar nicht erst auf oder schon um zehn Uhr zu. Da waren wir aber noch bei der Arbeit (lacht)
Ihr neuestes Album, das 47., heißt „Angebot und Nachfrage“. Ist das wieder so ein Titel mit zwei Bedeutungen?
Es ist zum einen eine Minidefinition von Kunst. Wir Künstler machen ein Angebot, das eine tiefere Nachfrage enthält. Wir wollen den Dingen auf den Grund gehen. Und dann ist da die offenkundige wirtschaftliche Dimension: Wir machen ein Angebot und hoffen, es stößt auf Resonanz.
Kunze kommt von Kunzt. Wie kaum einer im Popbiz versteht er sich auf das geschliffene Wort, hat eine Stimme, die bis in höchste Höhen noch immer klar ist. Und hat die Geschichte der Rock- und Popmusik seit „That’s All Right, Mama“ verinnerlicht. Die 16 Songs von „Angebot und Nachfrage“ haben ausnahmslos (zum Teil enormes) Livepotenzial. Was Kunze umtreibt, ist Persönliches wie Politisches. Seine Lovesongs sind nicht silly, seine politischen Stellungnahmen gehen (eigentlich schon seit 25 Jahren) über das einstige automatische „Links, wo das Herz ist“ des Rock’n’Roll hinaus.
Angegriffen wird überparteilich und dort, wo er das Arge für Freiheit und Demokratie im Auge hat. Da bekommen auch Wegducker („Die Angst geht um“) ihr Fett weg. Wobei Kunze sich in „Was bin ich wert“ auch schmerzhaft selbst bezweifelt. Mit „Sie sind Migranten“ schafft er den empathischsten Song für Geflüchtete und ihre Situation, mahnt Empathie an, ohne dabei in die Falle zu tappen, die gesichert rechsextremistische Partei zu nennen, die den Hass im Lande schürt. In der Mitsinghymne „Wir sind wir“ entwirft er die Vision einer offenen deutschen Gesellschaft – „tolerant, doch militant gegen alle Freiheitsfeinde“. Und singt „Wer ihn braucht, soll Schutz bekommen.“ Der Plattenmacher und Multiinstrumentalist Udo Rinklin erweist sich als perfekter Musikbruder, die Sounds sind ein bunter Supermarkt des Rock’n’Roll. Deftig springsteenesk geht es los mit „Besuch‘ mich Marie“, es gibt Country, Americana, Metal, Classic Rock, Psychedelic Rock, Wave. Sogar Rockabilly ist in Kunzes Angebot. „Irgendwo“ beginnt mit einem versunkenen Gary-Brooker-Keyboard als wär’s eine Traurigkeit von Procul Harum. Noch was? Die „Freundlichkeit“ hüpft fröhlich und elektronisch durch vier Minuten musikalisches Vorschlagwesen. Die Hand, die in „Sie sind Migranten“ zur Faust wurde, wird unter ihrem Wirken „wieder Hand“. Und man erfährt, was vor 3361 Jahren in Korinth passiert sein soll – zwischen Alexander, dem Großen und dem Philosophen Diogenes. Der Klugbürger Kunze lässt nebenbei die – jeder Strahl tut heute Not – Sonne der Bildung strahlen.Sie machen Albumangebote nur noch alle zwei Jahre.
Leider. Der Markt ist zusammengebrochen.
Vieles erscheint heute erst auf Tonträgern, wenn es online gezündet hat.
Das ist für mich das große Ärgernis, wenn meine Leib- und Magenzeitschrift „Uncut“ ein Album als Vinyl, CD und Streaming ankündigt. Und dann stellst du bei den Onlinehändlern fest: Nö, haptisch is‘ nich‘. Das macht mich rasend. Ich bin und bleibe Sammler. Ich will Dinge HABEN. Und dann liest du, dass die Musiker der jetzigen Americana-Welle in den USA in drei Jobs arbeiten, um existieren zu können. Vom CD-Verkauf können nur noch die ganz großen Pottwale der Branche leben. Wie sagt Richard David Precht zu Recht: Schon wieder ein Kulturgut weg, mit dem man Menschen ein Geschenk machen konnte. Was verschenke ich jetzt? Ein Abo für Streaming? Fuck You!
Es geht auf dem neuen Album viel um die dunkle Weltlage, um Lebensbilanz, späte Liebe und den Tod. Ein „Spätwerk“. Mögen Sie dieses Wort?
Der beste Roman von Thomas Mann – „Doktor Faustus“ – war ein Spätwerk. Die besten Platten von Johnny Cash waren alle Spätwerke. Ich glaube, der Beweis ist längst erbracht, dass man mit Rockmusik alt werden kann. Das haben viele gut hingekriegt, das will ich auch versuchen.
Ein Songtitel heißt „Was bin ich wert?“. Der Protagonist sinniert über das getane Gute, die im Leben gezeigte Haltung, zweifelt aber auch. Verschwimmen im Altwerden die Gewissheiten?
Die Gewissheiten verschwimmen schon in der Mitte des Lebens. In der Jugend ist man sich in allem sicher, und das ist fast immer Schwarzweißmalerei. Die Wahrheit ist viel differenzierter und grauer. In dem Lied bin ich drin, aber irgendwann kommt wohl jeder auf diese Fragen – sonst ist man ein irrsinniger Verdränger: Was tauge ich? Habe ich mein Leben verschwendet? Kann ich stolz zurückblicken? – ich finde diese Fragen ganz schön wichtig. Und sie sind für mich offen (lacht).
Im Song stehen Sie vorm Himmelstor. Glauben Sie an eine nächste Existenz? Klammern Sie sich daran?
Ja, ich klammere mich daran. Ich kann nicht gut leben ohne die Unterstellung, dass es einen Sinn und einen Gott geben könnte. Ich bin nicht gläubig, aber ich will, dass es das gibt. Ich setze es! Weil ich das brauche, um morgens aufstehen zu können. Diese Fragen nach Gott, Liebe, Ehrgeiz, Krieg kamen aber schon immer bei mir vor.
Die letzte Zeile des letzten neuen Songs „Wozu sind Kinder da?“ heißt „Will ewig leben“.
Der neue Star der Philosophie, der Schwede Martin Hägglund, sagt ja, ewiges Leben wäre nichts wert. Man hätte keine Zeitlichkeit mehr, nichts wäre mehr wichtig. Aber ich kann mir gut vorstellen, mehrere Jahrhunderte erleben zu wollen. Bis ich dann sage, ich bin müde, ich will nicht mehr. Das ist meine Windmühle, gegen die ich als Don Quichote immer wieder anrenne – dass ich diese Wahl nicht habe. Dieses Anrennen ist auch lächerlich. Aber das ist unser Vorrecht als Künstler: Wir dürfen uns auch lächerlich machen, wenn es um die großen Fragen geht.
Bruce Springsteen stellte zuletzt live die große Frage nach demokratischer Freiheit und positionierte sich in Europas Stadien mit Reden gegen den „unfähigen Präsidenten“ Trump und sein „Gangsterregime“. Manche sagen, das gehört nicht auf die Bühne.
Natürlich gehört so etwas auf die Bühne. Ich finde es schade, dass Bob Dylan das nicht tut. Bei Springsteen habe ich übrigens ein bisschen mitgewirkt. Ich habe die deutsche Übersetzung seiner Reden für die Leinwand gemacht. Jacky Jedlicki von der Konzertagentur hatte mich gebeten, zu helfen. Ich sagte: „Jacky, du bist amerikanischer Staatsbürger, du kannst das besser als ich.“ „Ja“, sagte er, „aber du kannst besser deutsch.“
Hören Sie in Deutschland in Zeiten politischen Rechtsdralls ein verstärktes prodemokratisches Liedermachen?
Nein. Vielleicht bin ich aber taub. Ich habe das Gefühl, hier herrschen immer noch die Leisetreter und die Laumichl. Auch bei den Älteren spüre ich eine mir doch suspekte Zurückhaltung taktischer Art. Dabei gehört es unbedingt in ihre Arbeit! In ihre Lieder!
Sein Spätwerk hat schon früher begonnen, vielleicht mit „Deutschland“ (2016). Jetzt erscheint mit „Angebot und Nachfrage“ das 47. Werk (Live- und Sprechalben) eingeschlossen des Song- und Musicalwriters, Sängers, Musikers und Autors Heionz Rudolf Kunze (68). Der 1956 im Lager Espelkamp bei Minden geborene Sohn von Flüchtlingen ist schon 45 Jahre im Geschäft – seit Kunze Ende 1980 den Würzburger Pop-Nachwuchsfestival-Preis in der Sparte „Folk, Lied, Song“ gewann.
Kunze galt anfangs als Liedermacher, war aber stark von den Britbands der Sechziger-jahre geprägt und wird seit seiner Coverversion des Kinks-Klassikers „Lola“ (1984) als Rocker geführt. Mit dem Song „Dein ist mein ganzes Herz“ (1985) und dem gleichnamigen Album machte seine Karriere den Sprung in die Großhalle. In den Nullerjahren ging’s zurück in die kleineren Hallen und Clubs, wo seine Musik am besten überspringt. Kunze lebt mit seiner zweiten Ehefrau Gabi in der Wedemark, ist seit 2009 mit ihr verheiratet, hat zwei Kinder aus erster Ehe, seine Ehefrau Gabi brachte einen Sohn und zwei Töchter dazu. Zwei Bands (Verstärkung und die schon seit zehn Jahren pausierenden Räuberzivil) hat Kunze, er hat Tausende Texte und mit seinem langjährigen Freund und Kreativpartner Heiner Lürig auch drei Musicals frei nach Skakespeare-Stücken ersonnen. Er ist Buchautor, hat zuletzt Springsteen-Songtexte und die Bob Spitz‘ Led-Zeppelin-Buch „Led Zeppelin. Die Biographie“ ins Deutsche übersetzt. Nächster Musikalischer Plan, sagt er im RND-Interview sei „das Scheunenalbum à la Neil Young – aber das kündige ich schon seit Jahrzehnten an“. Tatsächlich arbeitet Kunze schon an Liedern für ein weiteres Album.Auf „Angebot und Nachfrage“ finden sich einige Ihrer besten Liebeslieder überhaupt: fulminant im Sound, ernst, humorvoll. Aber es geht weniger ums Feuer der Lenden als um die Wärme der Zuneigung. No sex, we’re old?
Das muss doch angemessen sein, muss biologisch und psychologisch passen. Hier zu tun, als wäre ich Anfang 20 - das könnte man höchstens ironisieren.
Gibt es die Schulhofkönigin mit dem geheim gehaltenen, aus der Mode gekommenen Fünfzigerjahrenamen im countryesken Song „Das, was niemals war“ wirklich? Und wie hieß sie?
(lacht) Sie hieß Monika (lacht). Es gibt sie, und ich habe sie wiedergetroffen. Aber wir hatten nie was miteinander. Was mir auch niemals eingefallen wäre, weil mein bester Freund in sie verliebt war – auch vergeblich.
Die Liebe wird mit besonders anmutigen Sprachbildern gefeiert. In Ihrer Ballade „Einen anderen Menschen lieben“ heißt es: „Indem wir einen andern Menschen lieben / erfüllen wir die höchste Menschenpflicht / es ist wie in der Luft nach Gold zu sieben / am Ende ist das Sieb voll Sonnenlicht.“ Magischer Realismus.
Das ist, glaube ich, die beste Zeile dieses Albums. Und das ist auch ein Liebeslied für alle Lebensalter. Gute Liebeslieder sind schwerer zu schreiben als Politisches, weil es da schon so viel langweilige kleine Münze gibt – mit milliardenfach gebrauchten Phrasen.
Bei Ihnen ist der klare Reim wichtig. Im Pop, mehr noch im Rap verwischt das längst, so dass sich „Nussschokolade“ auf „Hartschaummatratze“ reimen kann.
Das sind Leute, die ihren Job nicht können. Stümper (lacht).
Im Song „Irgendwo“ sind Sie „zuhause“ in der Sprache. Bringt Ihnen Schreiben Geborgenheit?
Ich fühle mich nicht nur beim Schreiben am geborgensten – auch wenn ich lese, nicht nur, wenn ich Musik mache, auch, wenn ich Musik höre; immer in diesem Feld von Wörtern und Tönen. Abgesehen natürlich von der Familie. Die ist bei mir kein Anhängsel, die ist der wichtige Gegenpol zu diesem verrückten Beruf.

Heinz Rudolf Kunze – „Angebot und Nachfrage“ (Meadow Lake Music/Believe), erscheint am 12. September
rnd