Lesen und Leiden in Island: Der Buchladen am Ende der Welt

Island. Flateyri, ein Dorf mit nur 190 Einwohnern, gelegen in der selbst für Island dünn besiedelten Region Westfjorde. Nur ein paar Kilometer sind es bis zum nördlichen Polarkreis.
Der Ort liegt auf einer Landzunge, die sich tief in den Önundar-Fjord hineinstreckt. Wattewölkchen umspielen den fast 1000 Meter hohen Berg Kaldbakur im trüben Herbstlicht. Bald wird es hier für zwei Monate gar nicht mehr hell.
In Flateyri gibt es keinen Optiker, keinen Gemüseladen, keine Apotheke – aber einen Buchladen. Und was für einen! „Gamla Bókabúðin“, die „alte Buchhandlung“, ist das älteste Geschäft seiner Art in ganz Island.
Eythor Jovinsson, der 40-jährige Inhaber, betreibt den 1914 eröffneten Laden heute in vierter Generation. Das Gebäude existiert bereits seit 1898. Der Verkaufsraum gleicht einem Museum. Ein Wohlgeruch von Duftkerzen aus heimischer Produktion, die im Laden ebenso verkauft werden wie handgeschöpftes Papier, betören den Besucher, buhlen mit Wänden von Büchern um dessen Aufmerksamkeit.
In Zeiten von TikTok und Netflix – wie schafft es da ein Buchladen zu überleben? Ein Wunder in diesem entlegenen Landstrich, in dem jeder Einwohner statistisch gesehen 1,25 Quadratkilometer Platz für sich allein hat. In Deutschland leben auf der gleichen Fläche fast 300 Menschen.

„Bei uns läuft es prima“, sagt der gut gelaunte Eigentümer, gekleidet in Hemd, Krawatte, Weste und passender Anzughose. „Noch bis Ende Oktober haben wir sieben Tage die Woche geöffnet, das Hauptgeschäft wird jedoch Weihnachten erwartet“. Bókaflóð, „Bücherflut“ wird in Island der 24. Dezember genannt.
In Wahrheit ist hier jeden Tag ein bisschen Bókaflóð, denn verglichen mit anderen europäischen Ländern wird in Island noch immer viel und gern gelesen. Jeder der rund 318.000 Bewohner kauft im Durchschnitt acht Bücher pro Jahr.
Beliebt sind moderne einheimische Autoren, Jon Kalman Stefansson oder Gunnar Gunnarsson zum Beispiel, die auch in Deutschland bekannt sind.
Doch vor allem der 1998 verstorbene Literaturnobelpreisträger Haldor Laxness hat Island einem Weltpublikum näher gebracht. Seine Romanfiguren, der kauzigen Aufsteiger Ólafur Kárason aus dem Roman „Weltlicht”, die durchsetzungsstarke „Salka Valka“, die man sich so unangepasst wie die Sängerin Björk vorstellen muss, oder den rebellischen Jón Hreggviðsson aus der „Islandglocke”, kennt im Land jedermann. Auch, weil viele Isländer selbst eine gehörige Portion dieser Charaktereigenschaften in sich tragen.
Doch überraschenderweise führt ein anderes Buch im Laden von Eythor Jovinsson seit Jahren die Verkaufscharts an: „Sundkyrin Säunn“ heißt es, „Die schwimmende Kuh”. Autor ist der Ladenbesitzer selbst.
Die authentische Geschichte des auch auf Englisch und Deutsch übersetzten Kinderbuches spielte sich direkt am Önundar-Fjord vor der Ladentür ab.

1987 wurde eine Kuh namens Harpa zum Metzger in Flateyri gebracht. Kurz vor der Schlachtung durchbrach das Tier die Absperrungen, sprang in den Fjord. Sie durchschwamm das tiefe Gewässer, dicht gefolgt vom Metzger im Ruderboot. Nach drei Kilometern am anderen Ufer angekommen, wollte er sein blutiges Werk vollenden, doch jetzt begehrten die Fjordbewohner auf, die zu Augenzeugen geworden waren.
Tatsächlich durfte Harpa am Leben bleiben, bis ihre natürliche Lebensuhr ablief. Sie wurde im Fjord mit einem Denkmal verewigt, alljährlich im Herbst wird ihrer gar durch ein „Fjord-Schwimmen“ gedacht.
Eythor Jovinsson,
Buchhändler und Buchautor
„Etwas von dieser Kuh steckt in jedem Isländer“, sagt der Buchladenbesitzer und „Harpa-Chronist“ Eythor Jovinsson, „schließlich sind wir ja auch bloß im Streit übers Nordmeer geflohene Norweger“.
Tatsächlich begann die Besiedlung des bis dato menschenleeren Landes im 9. Jahrhundert durch einen gewissen Ingólfur Arnarson. Der aus Nordwegen stammende Wikinger hatte seine skandinavische Heimat im Streit mit Nachbarn verlassen und die Familie und keltische Sklaven im Schlepptau. In einer Bucht, über der wie ein Schleier der Rauch heißer Quellen hing, ließ er sich nieder – „rauchende Bucht”, taufte er sie, Reykjavik. „Eislands” Stunde Null.
Die norwegischen Exilanten fanden vor, was man zum Überleben brauchte: Grüne Weiden, Fisch als Nahrung, genug Wasser und eine überwältigende Natur. Mitgebracht hatten sie, neben Vieh, Saatgut und Werkzeug, vor allem ihre alten Mythen. Diese spannen sie in ihrer neuen Heimat weiter, weil nur Fabelwesen wie Trolle oder Riesen diese kolossale Natur erschaffen haben konnten – in diesem Land, „wo die Hölle unter dem Eis brennt”, wie es Halddor Laxness beschrieb. Und wo von September bis April flimmernde Nordlichter am Nachthimmel irritieren.
Anfang des 13. Jahrhunderts schrieb der Isländer Snorri Sturluson seine Edda nieder, eine Sammlung von Sagen der nordischen Mythologie. „In Island nennt man das 11. und 12. Jahrhundert auch ,goldene Zeit’, in kaum einem europäischen Land wurden so viele Bücher verfasst”, sagt Bergur Porgeirsson, Direktor des Snorrastofa Kultur und Mittelalter-Zentrums in Reykholt.
Björn Guanason,
Literaturwissenschaftler aus Ísafjörður
Auf die goldene folgte Islands Leidenszeit, Jahrhunderte kulturellen Verfalls. Die Menschen verlernten zu lesen, verlernten mitunter in dieser rauen Natur zu überleben, alljährliche Hungersnöten zu Ende der langen Winter waren die Folge. Man wähnte sich von Trollen und Elfen gepeinigt. Die immer wieder von Seuchen heimgesuchten, von Dänemark kolonialisierten Elendsgestalten Islands stopften mit dem Pergament alter Bücher die Löcher ihrer zugigen Hütten zu, wie es Laxness in seiner „Islandglocke“ beschrieb.
„Erst spät und infolge der Aufklärung haben wir Isländer uns an unsere eigenen Mythen und Geschichten erinnert“, sagt Björn Guanason. „Gelehrte wie Árni Magnússon begannen im 18. Jahrhundert, die alten Manuskripte zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten. Es war das Ende des dunklen Zeitalters“, so der Literaturwissenschaftler, der in Ísafjörður, der größten Stadt der Westfjorde, das Kulturzentrum leitet. „Heute wird oft behauptet, jeder Isländer habe in seinem Leben mindestens ein Buch geschrieben. Das ist übertrieben, wird aber von vielen als Motivation empfunden“, so Guanason.
Isländische Mythen wie die Edda mit ihren Götterfiguren eroberten im 19. Jahrhundert zunächst Europa, wurden durch Philologen wie Karl Simrock oder Richard Wagner, der sie vertonte, auch in Deutschland populär. Von da aus war es nur noch ein kurzer Weg in die Jetzt-Zeit, in der sich dank Marvell-Kinoproduktionen „made in Hollywood“ auch die Generation Z für Thor mit dem Hammer, Odin und Loki begeistern ließ.

Im Buchladen am Ende der Welt liegen sie einträchtig nebeneinander: Alte und neue Geschichten, Snorri Sturlusons „Edda“ neben Graphic Novels über Thor und Odin und Harpa, die schwimmende Kuh.
Neue Geschichten werden dazukommen. Aufgeschrieben in einem kleinen Land, in dem „die Hölle unter dem Eis brennt”, halbjährlich für Monate in Dunkelheit getaucht. Was hier offenbar viele Menschen als Einladung verstehen, die Wunder dieser vergänglichen Welt für eine Nachwelt auf Papier zu verewigen.
rnd