Junge lesen kaum noch. Die Folgen sind gravierend


Wie Studien seit Jahren zeigen, geht die Leseaktivität in der Bevölkerung, insbesondere aber bei den Jugendlichen, kontinuierlich zurück. Für Schlagzeilen sorgte jüngst eine Meldung im «Guardian», wonach die Lesefreude der britischen Kinder auf ein Allzeittief gesunken sei. Auf X und in anderen Medien entspann sich eine Diskussion darüber, als wie gravierend und schlimm dieser Befund nun einzuschätzen sei. Auch in dieser Zeitung wurde die Debatte referiert. Erwartbar gab es Warner – etwas überraschend aber auch durchaus bedeutende Intellektuelle, die sich in Anti-Alarmismus versuchten: Das Schriftliche werde halt durch Audio und Video ersetzt, es würden sich nun einfach andere Kompetenzen entwickeln, so etwa der britische Zoologe und Bestsellerautor Matt Ridley.
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Wer hat recht? Sind Audio und Video dem geschriebenen Wort wirklich gleichwertig? Gleichwertig in Bezug auf welchen Zweck? Einen Krimi kann man gut als Hörbuch hören. Ein Physik-Lehrbuch allerdings kaum. Doch warum heute überhaupt noch Physik lernen und nicht einfach die KI fragen? Ist die Aneignung von tiefgründigem und umfassendem Wissen – offenbar der Hauptzweck des Lesens – überhaupt noch nötig und sinnvoll? Sogar in der Bildungspolitik ist doch überall von Kompetenzorientierung die Rede, weil eingelerntes Wissen zu schnell veralte. Wozu noch im Kopf haben, was man doch in der Hand hat, jederzeit zu präsentieren auf dem kleinen «digitalen Silbertablett». Nun, sich nur noch darauf zu verlassen, wäre ein Irrtum, wie er fundamentaler nicht sein könnte.
Wissen im Kopf, statt nur in der KINatürlich – als biologische Wesen können wir unsere Sinnesoberflächen von Multimedia grandios bespielen lassen. Wenn wir uns aber zuvorderst als geistig-kulturelle Wesen weiterentwickeln wollen, wenn wir Autonomie und Kontrolle behalten wollen, dann müssen wir Wissen auch im Kopf haben, nicht zuletzt, um die aufkommende KI richtig befragen, bewerten und regulieren zu können.
Das entscheidende Argument aber hat schon Goethe formuliert: «Man sieht nur, was man weiss.» Und nur was man sieht beziehungsweise spürt, kann man geniessen. Während der Wein-Novize nur wenige Geschmacksaspekte zu unterscheiden vermag, verfügt der Sommelier über Hunderte von Begriffen, und seine auch theoretische Unterweisung wird für den Novizen sehr hilfreich sein.
Wahrnehmung und Wissen entwickeln sich immer in Wechselwirkung. Gelerntes abstraktes Begriffswissen kann deshalb sehr helfen, den persönlichen Erfahrungsweg abzukürzen und die sinnliche Erlebenswelt enorm zu differenzieren und zu intensivieren. Der scheinbare Reichtum der Aussenwelt ist in Wirklichkeit der Reichtum unserer Innenwelt. Nur wer kulturgeschichtliches Vorwissen hat, kann den Assoziationsreichtum, der in einer Ausstellung verborgen ist, voll in sich zum Wiederklingen bringen.
Information bleibt am selben PlatzLebenserfüllung und Glück haben viel mit Wissenserfülltheit zu tun. Und es gäbe noch viele weitere Argumente dafür, warum eines für uns Menschen als Geisteswesen essenziell ist: die Aneignung und Verinnerlichung grosser Wissensmengen und ihre innere Organisation zu adäquaten begrifflichen Weltmodellen.
Vereinfacht gesagt, zerfällt dieser Prozess in zwei Schritte: Zuerst müssen wir uns Wissensbausteine einprägen. Und dann müssen wir diese Bausteine innerlich zu komplexen und kohärenten Modellen organisieren. Das Erste braucht möglichst wirksame «Prägestempel» und Wiederholung; das Zweite braucht Zeit zur Verarbeitung und Musse zur spielerischen Reflexion.
Damit ist leicht erkennbar: Der beste Weg, sich solchen inneren Reichtum anzueignen, ist das Lesen – und zwar das analoge Lesen, das Lesen von Papierbüchern. Die stabile Form macht Papierbücher und -seiten für das erste Einprägen geeigneter – eine bestimmte Information steht immer gleichförmig am gleichen Platz und nicht einmal hier oder dort, je nach Format und Werbeeinblendung. Deshalb ist sie für allfällige Wiederholungen auch leichter auffindbar. Ein Papierbuch hat man gut in Griff und Überblick: Was man sucht, so erinnert man sich vielleicht noch, stand am Buchende oben auf einer rechten Seite. Und schon hat man es, zumal, wenn es angestrichen wurde. All das ist bei digitalen Büchern deutlich schwieriger. Mancher muss als Erstes einmal googeln, wie viele Seiten das Papierbuch eigentlich hat, um allein eine Vorstellung vom Umfang des digitalen Textes zu bekommen.
Weiterhin wird die Aneignung eines Textes durch händische Unterstreichungen, Randbemerkungen oder gar Exzerpte sehr gefördert. Studien haben gezeigt, dass multisensorisches Lernen unter Einbezug der Handschrift effektiver ist und auch Vorteile hat gegenüber dem Schreiben mit Tastatur. Zentral ist natürlich, dass Digitalgeräte eine Fülle von Ablenkungsmöglichkeiten bergen, die die Konzentration zum Teil massiv herabsetzen. Entsprechend deutet die Studienlage darauf hin, dass analoges Lesen zu besserem Inhaltsverständnis führt. Allein die Anwesenheit eines inaktiven Digitalgerätes setzt bei Schülern schon die Konzentration herab.
Video- und Audioformate können im Sinne multisensorischen Lernens wertvolle Ergänzungen bei der Wissensvermittlung sein. Für eine wirkliche Aneignung anspruchsvoller Lerninhalte sind sie allein jedoch ungeeignet. Zum einen setzt auch hier die Flüchtigkeit dieser Formate ihre erste Einprägewirkung herab. Vor allem aber: Die zeitliche Kontrolle über den Informationsstrom ist zu beschwerlich. Beim Lesen können wir zu jeder Zeit innehalten, nachdenken, Satz oder Absatz ein zweites Mal lesen. Für die innere Organisation komplexen Wissens ist dies essenziell. Das Anhalten und Zurücksetzen von Videos oder Podcasts ist dagegen so fummelig, dass man es in praxi längst nicht so oft macht, wie es nötig wäre.
Für die Bildung ist Lesen also unabdingbar, die zentralen Bildungsinhalte sollte man sich auf analogem Wege aneignen.
Die Intelligenz nimmt bereits abSelbst dem Bildungsbürger ist heute wenig bewusst, wie revolutionär sich das Lesen auf Kultur- und Gesellschaftsentwicklung ausgewirkt hat, wie sehr es sogar unsere psychoneurale Identität umgeprägt hat. Dies kann man in dem wichtigen Buch «Die seltsamsten Menschen der Welt» des Harvard-Anthropologen Joseph Henrich nachlesen.
Es wird hier gezeigt, dass die durch den Protestantismus initiierte breite Alphabetisierung der Bevölkerung der entscheidende Faktor war, der zur Herausbildung eines besonderen Sets psychischer Befähigungen geführt hat. Hierzu gehören das abstrakt-analytische Denken, eine erhöhte Selbstdisziplin, das Bestreben, sich als Individuum zu verstehen und die persönlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sowie die Fähigkeit, sich in Institutionen zu integrieren, die nach abstrakten, unpersönlichen Regeln funktionieren. Dies war der Nährboden, auf dem dann die wissenschaftlich-industrielle Revolution zu florieren begann, aus der unsere modernen, liberaldemokratischen Wohlstandsgesellschaften erwachsen sind.
So, wie intensives Bodybuilding den Körper sichtlich verändert und leistungsfähiger macht, stärkt eine intensive Lesekultur den Geist und verändert nachweislich das Gehirn – sie führt unter anderem zu Veränderungen im präfrontalen Cortex insbesondere im Bereich der Sprachzentren sowie zu einer Verdickung des Corpus callosum (der «Datenautobahn», die beide Hirnhälften verbindet).
Es sind wohl mehr als nur Korrelationen, wenn parallel zur quantitativen Leseaktivität auch die Fähigkeit zum inhaltlichen Verständnis komplexerer Texte abnimmt. Und: Entgegen dem Trend früherer Jahrzehnte beginnt inzwischen auch der IQ der Durchschnittsbevölkerung zu stagnieren oder gar zu sinken (inverser Flynn-Effekt).
Die Lesekultur ist die tragende Säule der westlichen Zivilisation. Wollen wir wirklich testen, wie standfest sie bleibt nach dem Wegbrechen dieser Stütze? Menschen sind durch und durch analoge Wesen. Weder können wir die Fortpflanzung digitalisieren noch die Kernprozesse unserer Selbstbildung. Es gilt, die Lesekultur zu erhalten, die Digitalisierung in den Schulen auf ein vernünftiges Mass zu begrenzen und die kulturtragenden Bildungsinhalte weiter bzw. wieder auf analoge Weise zu vermitteln: mit Papier und Stift.
Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis Mai 2023 leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.
nzz.ch