Filme und Musik | Kennen Sie Lalo Schifrin?
Kennen Sie Lalo Schifrin? Nein? Vielleicht ist Ihnen der Name nicht so geläufig. Was Sie jedoch sehr wahrscheinlich kennen, sind ein Paar der Filmmusiken, die der gebürtige Argentinier komponierte, über 200 Stück, viele davon legendär. Am liebsten verjazzte Schifrin genreübergreifend seine klassische und symphonische Ausbildung, um damit Generationen zu ködern und zu betören. Als einer der ersten Filmkomponisten überhaupt adaptierte er Jazz-Rhythmen. Musikalisch lebte er zwischen den Stühlen – machte aber die große Welle daraus.
1966 komponierte Boris Claudio Schifrin, gerade 34-jährig, den Sound für die US-Fernsehserie »Mission: Impossible« (die in der ARD »Kobra, übernehmen Sie« hieß). Frenetische Violinen, ein rasantes Bläserstakkato, das fetzende Piano – Musik für die Ewigkeit, eine der unsterblichen Erkennungsmelodien der TV- und Kinogeschichte. Schifrin hatte den Vorspann »blind« geschrieben, er kannte die Bilder nicht. »Wir richten uns nach deiner Musik. Gib uns etwas Rhythmisches«, war die Ansage, die er vom Fernsehsender CBS bekommen hatte. So lässt sich’s arbeiten. Journalisten träumen davon. Manchmal hat man Glück.
Schifrins Problemlösung war ein tougher, frecher, aufwühlender 5/4-Takt, der das Kino revolutionierte. Er sah die Dinge so: »Das Verhalten des Komponisten im Hinblick auf einen Film ist der von Mozart, Verdi, Donizetti und Wagner gegenüber ihren Dramen und Komödien ähnlich. Die Kunst, fürs Kino zu schreiben, hat damit zu tun, den Kontrapunkt zwischen Bild und Musik zu verwirklichen.« Klingt simpler, als es ist. Talent ist für diese Synthese zu wenig. Fanatische Kinobesuche in der Calle Lavalle im Microcentro seiner Geburtsstadt Buenos Aires waren eine strikte Vorbedingung. Und natürlich die gute alte Besessenheit.
Zum Glück kam Schifrin schon früh auf die schiefe Bahn. Schief kommt man nicht mehr richtig gerade. Sein Vater Luis war Konzertmeister und Erster Violinist des Philharmonischen Orchesters im weltberühmten Teatro Colón von Buenos Aires. Zunächst schickte er Lalo als Sechsjährigen in die Pianoklassen von Enrique, dem Vater des Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim. Bei Juan Carlos Paz wurde er in Komposition unterrichtet. Lalo war kurz davor, einen Abschluss als Anwalt zu machen, als fröhlich die Musen intervenierten: Der 20-Jährige wurde als Stipendiat am Konservatorium von Paris genommen. Tagsüber nahm er also überwiegend an den Klassen von Olivier Messiaen teil, nachts trieb er sich durch dieselben Jazz-Spelunken wie seine Landsleute und baldigen Freunde Astor Piazzolla und Julio Cortázar, die auch bald berühmt werden sollten. Und Lalo drosch in die Tasten, wo es nur ging, wegen Broterwerbs.
Einige Jahre darauf (1956), nun wieder in Buenos Aires, winkte ihm das Schicksal erneut zu. Hallo, Lalo! Mit seiner eigenen Big Band (darunter der Tenorsaxophonist Gato Barbieri, erste Sahne) spielte er in einer Kaschemme namens »Rendez Vous«, als dort eines Tages unter der Woche zufällig niemand Geringeres als der Bebop-Gott und Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie mit seinem Kumpel Quincy Jones aufkreuzte. Zusammen mit Schifrin und Piazzolla wurde alsdann gejammt. Ad hoc nahm Gillespie den Argentinier unter seine Fittiche. Erste Arbeit für den Trompeter war eine Suite in fünf Sätzen mit dem Titel »Gillespiana«, die Schifrin 1958 fertigstellte. Begonnen hatte er sie noch auf dem Schiff, das beide nach New York transferierte. Sie waren jetzt ein Quintett, der Argentinier bis 1962 dessen unbestrittener musikalischer Leiter; neben seiner Arbeit als Komponist und Arrangeur spielte er das Piano.
Anschließend widmete sich Lalo Schifrin immer mehr dem Latin Jazz und Bossa Nova. Der Weg des Komponisten, Jazz-Pianisten (er spielte in der Folge unter anderem mit Sarah Vaughan, Stan Getz, Count Basie, Ella Fitzgerald, Eric Dolphy) und mittlerweile auch Orchesterdirigenten (etwa dirigierte er die Bandoneonkonzerte von Astor Piazzolla) nach LA und Hollywood war vorgezeichnet. Metro-Goldwyn-Mayer klopfte an. Der Argentinier unterstrich, dass ihm die Leinwand keinesfalls zu groß war. Für den Film »Der Unbeugsame« (1967) mit Paul Newman kreierte er die Musik, daraus resultierte die erste seiner sechs Oscar-Nominierungen.
Zwei Jahre zuvor hatte er bereits die Musik für »Cincinnati Kid« (mit Steve McQueen und Karl Malden) komponiert. 1968 vertonte er »Bullit«: Dieser McQueen-Krimi hat keine Handlung, die Schnitttechnik ist großartig und die Cool-Jazz-Filmmusik von Schifrin die beste, die genreunabhängig je geschaffen wurde. Bei »Bullit« wird das Credo der Schifrin’schen Genialität am deutlichsten: Die Kinobilder werden nicht einfach untermalt, sondern angetrieben. Nicht nur für diese Zeit der helle Wahnsinn. Beste Platte der Welt, noch vor »Revolver« (Beatles)!
Auch für die Musik der technokratischen Science-Fiction-Dystopie »THX 1138« von George Lucas (1971) zeichnete Lalo Schifrin verantwortlich. Der Megaerfolg kam jedoch erst durch die Clint-Eastwood-Filme. Nach »Coogans großer Bluff« (1968) und »Betrogen« (1971, für meine Begriffe der beste Film mit Clint Eastwood als Schauspieler) machte Schifrin fortan auch die Filmmusiken für die »Dirty Harry«-Reihe von Don Siegel, in der Eastwood als Hardboiled-Bulle Harry Callahan Mörder und andere Vergewaltiger (alles Inländer) jagt. Dem brutalen Callahan komponierte Schifrin eher elegische Töne auf den Leib. Die Erlöse an der Kinokasse gingen durch die Decke. Neben diversen Filmmusiken für John-Sturges-Filme war 1973 »Der Mann mit der Todeskralle« angesagt. Die ganze Welt liebte diese Bruce-Lee-Schmonzetten. Es war dessen letzter Film. Der Sound war atmosphärisch, Schifrin hatte sich auf neues Terrain gewagt und Funk-Elemente mit Samples und Tönen aus Asien gemixt.
1975 näherte sich Schifrin noch mehr der Soul- und Funk-Musik an und komponierte für die TV-Krimiserie »Starsky & Hutch«, sein letzter wirklicher Erfolg. 1974 bis 1976 lief im ZDF »Petrocelli«. Nichts habe ich jemals lieber gesehen (außer »Arpad, der Zigeuner«). 1990 dirigierte Schifrin die »Drei Tenöre«, Hochkultur für Blödis. 1998 kehrte er mit dem Topfilm »Tango« von Carlos Saura noch einmal zu seinen Wurzeln zurück. Im Herbst 2018 erhielt er endlich den Ehren-Oscar für sein Lebenswerk aus den Händen seines Kumpels Clint Eastwood.
Lalo Schifrin starb vor einer Woche 93-jährig in Beverly Hills. Nur Cineasten erinnern sich noch an ihn. Und zwei Handvoll Porteños, die Insassen von Buenos Aires, die sich für etwas Besseres halten, nämlich für Europäer. Es sind eher die Ärmeren.
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