«Die Leichen kommen nachts an» – wie Medien auf die Relotius-Geschichten einer künstlich generierten Journalistin hereinfielen


Die Probleme, die Margaux Blanchard am 14. April im Magazin «Business Insider» beschreibt, kennen viele Eltern und Angestellte. Arbeitstage mit stressigen Fahrten zum Kindergarten, hastig gepackten Lunchboxen oder das schlechte Gewissen, wenn man am Abend zu müde ist, um eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Zuerst, so schreibt Blanchard, habe sie deshalb das Arbeiten im Home-Office als befreiend empfunden. Endlich Zeit für die Kinder! Aber dann, die Ernüchterung: Blanchard ertappt sich dabei, wie sie während eines Zoom-Meetings Lego mit ihrem Kind spielt. E-Mails liest sie schon morgens im Bett, die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. «Ich war physisch da, aber mental woanders.»
Sie nennt sich «freischaffende Journalistin und Mutter»Der «Business Insider», der mehrheitlich dem Axel-Springer-Verlag gehört, hat den Artikel kürzlich vom Netz genommen. Denn Margaux Blanchard ist kein Mensch, sondern eine mit künstlicher Intelligenz erschaffene Pseudojournalistin. Es gibt ein Autorenbild und ein Twitter-Profil von ihr, auf dem sie sich «freischaffende Journalistin und Mutter» nennt. Ihre Geschichten hörten sich so lebensnah und gut an, dass mehrere Medien auf sie hereinfielen.
So publizierte die zu Condé Nast gehörende Plattform «Wired» im Mai dieses Jahres eine Story von Margaux Blanchard über Paare, die in digitalen Parallelwelten wie «Minecraft» heiraten. Zum Beispiel Sarah Nguyen aus Portland (USA) und Jamie Patel aus Leicester (England), die sich bereits mit dreizehn beim «Minecraft»-Spielen kennengelernt haben. «Wir haben nicht nur zusammen gespielt», so wird Jamie zitiert, «wir haben eine Welt erschaffen, Geschichten erzählt und in dem von uns geschaffenen Universum gelebt.»
Die Hochzeit, das betont er stolz, habe nur 300 Dollar gekostet, viel weniger als an einem Veranstaltungsort. Denn man habe ja nicht einmal Sitzplätze gebraucht. Die Eltern hätten sich trotzdem gefreut.
Die grosse Leichenschau in der BergbaustadtAuch dieser Artikel ist aus dem Internet entfernt worden, lässt sich jedoch wie jener des «Business Insider» auf Archivseiten nachlesen. Für «Wired», das Barack Obama einmal mit einem Gastbeitrag beehrt hat, ist die Sache besonders peinlich. Es ist ein Tech-Magazin, das sich schon lange mit künstlicher Intelligenz beschäftigt.
Wie die Redaktion in einer Entschuldigung schreibt, prangert sie deren Gefahren für die Medien gerne an. Zudem ist man stolz, «ein Team brillanter Faktenprüfer in unserer Redaktion zu haben». Die aber im Fall der virtuellen Heiraten versagt haben oder gar nicht konsultiert wurden. Denn Sarah Nguyen aus Portland und Jamie Patel aus Leicester gibt es ebenso wenig wie Margaux Blanchard.
Aufgeflogen ist die Affäre dank dem Journalisten Jacob Furedi, der Anfang April das Online-Magazin «Dispatch» lanciert hat. Er erhielt nach eigenen Angaben eine E-Mail von Margaux Blanchard, in der die KI-generierte Journalistin eine Story über die stillgelegte Bergbaustadt Gravemont in Colorado anbot. Dort, so Blanchard, würden Wissenschafter und Rettungskräfte für forensische Arbeiten oder Aufklärung von Kriegsverbrechen ausgebildet. Indem sie die Leiber von echten Toten untersuchten, die in nachgebauten Wohnungen, Spitälern oder Busbahnhöfen platziert würden.
Der Artikel begann laut Furedi so: «Die Leichen kommen nachts an». Die Geschichte hörte sich für Furedi allerdings zu gut an, und er begann nachzuforschen. Seine Entlarvung der Fake-Journalistin Margaux Blanchard hat in angelsächsischen Medien für einiges Aufsehen gesorgt, unter anderem berichteten der «Guardian» und die «New York Post». Vor einigen Tagen hat sich ein gewisser Andrew Frelon auf der Plattform «Medium» dazu bekannt, Blanchard kreiert zu haben. Er habe im Auftrag eines «grossen Medienkunden» beweisen wollen, wie leicht ein vollständig autonomes KI-System Artikel produzieren könne, die «erstklassige Medien» kauften.
Die künstlichen Erben von Tom Kummer und Claas Relotius«Margaux konnte Ton, Stil und Stimme wie eine erfahrene Journalistin imitieren», schreibt Frelon. Der Unterschied zwischen menschlichen und maschinellen Beiträgen werde bald nicht mehr zu erkennen sein. Andrew Frelon ist ebenfalls eine KI-generierte Kunstfigur, hinter der ein Experte für Cybersicherheit stehen soll. Frelon gibt sich auch als «Manager» der Band «The Velvet Sundown» aus. Einer virtuellen Fake-Gruppe, die mit Sechziger-Jahre-Retro-Sound mehrere Hits produziert hat.
Jacob Furedi, der den Schwindel um Margaux Blanchard entlarvt hat, sieht den Fall als Warnung vor Tendenzen in den Medien, das Geschichtenerzählen durch billig und schnell produzierte «Inhalte» zu ersetzen. Aber, so fügt er hinzu, künstliche Intelligenz möge zwar in der Lage sein, zweitklassige Kommentare oder zusammengewürfelte Nachrichten zu verfassen. Sie könne jedoch nicht im Yosemite-Park wandern, mit britischen Preppern campen oder mit Irvine Welsh über Sex diskutieren.
Das könne nur echter Journalismus, wie ihn sein neues Magazin betreibe. Bei aller Eigenwerbung unterschlägt Furedi allerdings, dass es schon vor dem KI-Zeitalter Hochstapler und Betrüger gab. Tom Kummer, Stephen Glass und Claas Relotius sind zwar echt, viele ihrer Geschichten jedoch genauso falsch wie die Leichenstory aus Colorado. Erfolg hatten sie auffällig oft bei Magazinen, die sich als Olymp des Journalismus betrachten.
Der mit Preisen überhäufte Claas Relotius erfand für den «Spiegel» und andere Medien Figuren und Szenen, die politische Weltbilder bestätigen sollten, etwa dumme Trump-Wähler, die Jagd auf Migranten machen. Sie existierten nur in seinem Kopf. Aber wie Margaux Blanchard imitierte er einen gewissen Journalistentypus so gut, dass man ihm alles glaubte.
nzz.ch