Davos erfindet das Musikfestival neu


Der Titel des Eröffnungskonzerts am Davos-Festival hätte gut das Leitthema der diesjährigen Jubiläumsedition sein können. Als vor vierzig Jahren der Startschuss fiel, kam das in der Festivalwelt jedenfalls einem «Urknall» gleich. Was da von Michael Haefliger, dem nachmaligen Intendanten des Lucerne Festival, Mitte der 1980er Jahre in Graubünden begründet wurde, war ein Signal der Erneuerung und Öffnung, das bis heute nachhallt.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
In Davos wird nämlich von jeher nicht einfach ein typisches Festival vor schöner Bergkulisse geboten, mit allseits bekannten Stars, gut verdaulichen Musikhäppchen und allenfalls garniert mit einigen Meisterkursen für den Nachwuchs. Hier spielt der Nachwuchs selbst die Hauptrolle. Junge Talente erhalten hier ihr erstes grosses Podium. Das war die zentrale Vision von Haefliger, und an ihr hat sich bis heute nichts geändert: Das Prinzip «Young Artists in Concert» gilt und trägt noch immer.
Spielwiese für ExperimenteZum Prinzip gehört auch, dass man das Programm nicht von Künstleragenturen bestimmen lässt. Stattdessen lauscht man selbst kontinuierlich in die Nachwuchsszene hinein und lädt gezielt besondere Begabungen ein. Sie bilden dann untereinander Ad-hoc-Ensembles, manche bleiben auch später dauerhaft zusammen.
Haefliger selbst war 25 Jahre jung, als er sein erstes Festivalprojekt ins Leben rief. Gerade 30 war Marco Amherd, als er 2019 zum Intendanten gewählt wurde. In kurzer, überdies pandemiebedingt schwieriger Zeit hat der Musiker aus dem Wallis eigene Akzente gesetzt. So auch jetzt wieder, im Jubiläumsjahr, beispielsweise mit einem Fokus auf unbekannte Komponistinnen. Wo sonst hört man Musik der Mozart- und Beethoven-Zeitgenossin Sophia Corri-Dussek oder der beiden Spätromantikerinnen Rita Strohl und Vítězslava Kaprálová?
In Davos springt man damit nicht erst auf einen fahrenden Zug auf – man hat ihn sozusagen mit angeschoben; denn Komponistinnen gehören hier seit langem zum Fokus. Davos war zudem immer schon eine Spielwiese für Experimente. Dazu zählen nicht zuletzt neuartige, oft ausgefallene Formate an ungewöhnlichen Spielorten – eine Programmschiene, die besonders Amherds Vorgänger Reto Bieri zwischen 2014 und 2018 forciert hat.
Von solchen unkonventionellen Ideen möchte man sich künftig beim Boswiler Sommer im Kanton Aargau verstärkt inspirieren lassen. Noch setzt das Festival vor allem auf grosse Namen aus der Klassikwelt, aber da die auch andernorts zu erleben sind, soll das eigene Profil geschärft werden. Dessen Reiz liegt unter anderem in dem ländlichen, fast schon privaten und damit exklusiven Rahmen.
Im Jahr 2000 gestartet, ist der Boswiler Sommer das Aushängeschild für das Künstlerhaus Boswil. Seit den 1950er Jahren werden dort Konzerte mit weltweit bekannten Interpreten veranstaltet. Überdies gibt es hauseigene Jugendorchester, Konzerte für Kinder und eine Akademie für den Nachwuchs. Nun sollen die bekannte Geigerin Julia Fischer und Benjamin Nyffenegger, stellvertretender Solocellist im Zürcher Tonhalle-Orchester, programmatisch für frischen Wind beim Sommerfestival sorgen. 2024 hatte das Duo bereits zwei punktuelle Reihen im Frühling und im Herbst konzipiert, die diesjährige Sommeredition war ihre erste.
Orte der BegegnungIn Boswil wollen Fischer und Nyffenegger einen sommerlichen Ort der Begegnung mit Gleichgesinnten bieten und in diesem Rahmen Komponisten und Werke erschliessen, die sie auch selber als praktizierende Musiker vertieft entdecken möchten. Fischer und Nyffenegger kennen sich bestens, sie bilden gemeinsam mit dem Bratschisten Nils Mönkemeyer und dem Geiger Alexander Sitkowetski das Julia-Fischer-Quartett. Diese Formation war nun einer der tragenden Akteure im Programm. Hinzu kam, sozusagen als Stargast, Paavo Järvi, der Musikdirektor der Tonhalle; er dirigierte bei seinem Debüt in Boswil das festivaleigene Orchester. Der Kontakt kam durch Nyffenegger zustande.
In der diesjährigen 23. Edition drehte sich alles um das Motto «Aus meinem Leben» nach dem gleichnamigen ersten Streichquartett von Bedřich Smetana. Dementsprechend standen Komponisten im Zentrum, die in ihrer Musik das eigene Leben reflektiert haben – wie etwa Dmitri Schostakowitsch. Dessen 50. Todestag Anfang August spielte eine besondere Rolle. Wie in Davos wurde zudem die polnische Komponistin Grażyna Bacewicz gewürdigt.
Dabei zeigte sich einmal mehr: Der besondere Zauber in Boswil beruht tatsächlich auf der ungewöhnlichen Nähe zwischen dem Publikum und den Interpreten. Die Besucher erleben die bekannten Musiker gewissermassen barrierefrei, ganz persönlich. Etwa auf einer Musikwanderung – einem Format, das man vor Jahren in Davos erprobt hat und das sich mittlerweile auch andernorts etabliert. In Boswil nahm die grosse Pianistin Yulianna Avdeeva an solch einer Wanderung teil.
Im schmucken Kirchlein von Oberschongau, irgendwo im Nirgendwo, spielte die Gewinnerin des Warschauer Chopin-Wettbewerbs eine Auswahl aus den 24 Präludien und Fugen op. 87 von Schostakowitsch. Einen Tag zuvor war ihre Gesamtaufnahme dieses gewichtigen Zyklus beim Label Pentatone erschienen. Wie auf der Einspielung wird auch an diesem Nachmittagskonzert die eigenständige Sicht Avdeevas auf Schostakowitsch hörbar: Glasklar und konsequent entschlackt wirkt ihr Spiel, manchmal geradezu kühn in der Agogik, aber ohne jede äusserliche Show.
Trotzige AusblickeJulia Fischer und Benjamin Nyffenegger sollen den Boswiler Sommer auch im Jahr 2026 programmatisch verantworten. Ob und in welcher Form es vielleicht darüber hinaus weitergehen könnte, darüber wird derzeit verhandelt. Dass Fischer und Nyffenegger in Boswil aktiv bleiben und die programmatische Öffnung weiter vorantreiben, ist so oder so ein gutes Signal. Denn die beiden entfalten als künstlerisches Duo schon jetzt eine ähnlich inspirierende Wirkung für Boswil wie Marco Amherd für Davos.
Dort könnte das Motto im nächsten Jahr übrigens «Mut» oder «Trotz» lauten. Das passt nicht nur zur Weltlage, sondern auch zum Selbstverständnis des Festivals selber. Seit vierzig Jahren bietet man in Davos den Verkrustungen und Routinen des etablierten Musikbetriebs ebenso trotzig wie spielerisch die Stirn – und spornt damit längst andere Festivalveranstalter an.
nzz.ch