Krisenvorsorge: »Ohne funktionierende Apotheken wird es nicht gehen«


Ralf Hoffmann: »Wir werden auch in einer Krise auf das Netz der Apotheken zwingend zurückgreifen müssen.« / © Bundeswehr/Christopher Preloznik
PZ: Wie gut ist das deutsche Gesundheitssystem Ihrer Meinung nach für den Ernstfall vorbereitet?
Hoffmann: Wir haben in Deutschland ein Gesundheitswesen, das sicher sehr komplex aufgebaut und nicht ganz so einfach zu koordinieren ist, weil es unterschiedliche Verantwortungsebenen gibt. Hier liegt eine der großen Herausforderungen bei einer ausgeweiteten Krise: die Koordination, dass alles Hand in Hand funktioniert. Ich glaube aber, dass es hierzulande im Vergleich zu vielen anderen Gegenden dieser Erde ein sehr zuverlässiges System gibt.
PZ: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Hoffmann: Wir haben in Deutschland eine wirklich gut funktionierende Versorgung mit Arzneimitteln und ein gut funktionierendes logistisches Verteilernetz. Die Apotheken sind ein Schlüsselelement in der Versorgung der Bevölkerung. Das klappt im Normalbetrieb gut. Das Apothekensystem baut auf dem Engagement und der fachlichen Expertise der Pharmazeuten und Pharmazeutinnen auf und hat schon oft bewiesen, dass es sehr gut aufgestellt ist. Unsere Sorge ist, dass das möglicherweise in einer schweren Krise nicht mehr so gut funktioniert. Die Frage, die sich für uns stellt: Was können wir tun, um das besser zu machen? Sowohl die Länder als auch der Bund haben schon gewisse Vorsorgemaßnahmen getroffen, etwa durch das Anlegen von Vorräten an Medizinprodukten und Arzneimitteln für Krisenfälle. Allerdings nicht für die Situation einer Landes- und Bündnisverteidigung. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, welche Optionen es hierfür gibt.
Hoffmann: Man könnte einfach sagen, man macht nichts. Ich glaube aber, das wäre die schlechteste Lösung – denn wir müssen in einer absoluten Krisensituation damit rechnen, dass die Arzneimittel und Medizinprodukte nicht ausreichen, insbesondere wenn deutlich mehr Patienten und Patientinnen zu versorgen wären. Deswegen ist das keine Lösung. Dann gibt es die Option einer Bevorratung, um bei Bedarf auf Notfallvorräte zurückgreifen zu können. Wenn man das macht, muss man sich aber fragen: Was wollen wir bevorraten? Was benötigen wir für eine Krisensituation und in welchem Umfang? Wer beschafft es? Wer lagert es ein? Wer bezahlt dafür? Leider kann ich da noch keine fertigen Lösungen präsentieren.
PZ: Eine wichtige politische Forderung ist auch, dass Deutschland wieder unabhängiger von globalen Lieferketten werden muss.
Hoffmann: Ja, ein weiterer Schritt in dem Zusammenhang ist die Überlegung, wie wir hierzulande wieder mehr pharmazeutische Produkte selbst produzieren können, um unabhängiger von Lieferketten aus dem Ausland zu werden, die möglicherweise nicht belastbar und im Krisenfall nicht verfügbar sind. Diese Frage ist deutlich komplexer, weil sie den Aufbau beziehungsweise Wiederaufbau einer Infrastruktur für eine eigenständige pharmazeutische Versorgungsstruktur einschließlich der Herstellung von Arzneimitteln erfordert. Das alles wird sich aber nur in Teilen realisieren lassen, wenn überhaupt.
PZ: Wie ist die Bundeswehr in die Krisenvorsorge eingebunden?
Hoffmann: Ich selbst als Verantwortlicher für den Sanitätsdienst der Bundeswehr beschäftige mich intensiv mit diesem Thema. Wir erhöhen derzeit unsere Bevorratung einsatzwichtiger Produkte, um resilienter aufgestellt zu sein. Zudem bauen wir in einem sehr überschaubaren Umfang eigene Produktionskapazitäten auf, um bei Engpass-Produkten eigenständig Lücken schließen zu können. Das ist allerdings nur auf die Streitkräfte zugeschnitten und nicht die Antwort für die Gesundheitsversorgung in ganz Deutschland.
PZ: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und zivilen Akteuren im Gesundheitswesen?
Hoffmann: Derzeit intensiviert sich die zivil-militärische Zusammenarbeit, was ich sehr begrüße. Und ich bin sehr dankbar, dass auch die zivile Seite sehr offen und konstruktiv sich mit uns an einen Tisch setzt. Mir ist ganz wichtig, dass es hier nicht um ideologische Fragen geht, sondern dass wir immer im Auge behalten, dass wir verantwortlich sind für Patientinnen und Patienten.
PZ: Haben Sie Lösungen, wie die Apotheken in Krisenvorbereitungen besser eingebunden werden können?
Hoffmann: Im Prinzip gibt es ein mehrstufiges System. Neben den pharmazeutischen Herstellern haben wir die Pharmagroßhändler mit ihren entsprechenden Lagerkapazitäten und schließlich die Apotheken, die selbst auch über Vorräte verfügen, allerdings in deutlich geringerem Umfang. Welche Aufgaben übernehmen die Apotheken? Was muss zentral gelagert werden? Wer priorisiert, welches Material wohin geht? Das sind Fragestellungen, mit denen wir uns jetzt intensiv und gesamtstaatlich auseinandersetzen müssen. Aber dazu gibt es an sich noch keine abschließenden Antworten. Es gibt allerdings eine ganze Reihe von Ideen, beispielsweise mobile Apothekenlösungen oder modulare pharmazeutische Versorgungseinrichtungen.
PZ: Sind diese Lösungen bei der Bundeswehr schon im Einsatz?
Hoffmann: Die Bundeswehr hat Einrichtungen und Versorgungspunkte für Arzneimittel und Medizinprodukte, die auch mobil ausgeplant sind und zum Einsatz gebracht werden können. Da müssen wir sicherlich quantitativ nachsteuern, was Leistungsfähigkeit und Anzahl betrifft. Wir haben da auf Einsätzen der Vergangenheit eine nicht unerhebliche Erfahrung sammeln können, die wir auch sehr gerne bei Überlegungen der zivilen Seite zur Verfügung stellen. Und es gibt auch hier ja schon eine Reihe von Ansätzen.
Hoffmann: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat bei seinen Medical Task Forces entsprechend logistische Anteile vorgesehen. Auch da gibt es im zivilen Bereich für Krisensituationen erste Ansätze, die man jetzt anschauen und anpassen muss.
PZ: Welche Lehren zieht die Bundeswehr aus der Covid-19-Pandemie?
Hoffmann: Damals waren wichtige Fragen: Wo legen wir eigentlich welche Bevorratung an? Wer hat wie viel Impfstoff? Wie verteilen wir diesen? Welche logistischen Wege nutzen wir? Es saßen alle verschiedenen Ebenen an einem Tisch und haben gemeinsam Wege gesucht, um das bestmöglich zu organisieren. Auch da war die Bundeswehr involviert: Das Versorgungs- und Instandsetzungszentrum für Sanitätsmaterial in Quakenbrück übernahm damals eine zentrale Rolle bei der Verteilung der COVID-19-Impfstoffe in Deutschland. Das Zentrum hat den Status einer Bundeswehrapotheke.
PZ: Es mussten sich also viele Fragen neu gestellt werden.
Hoffmann: Genau! Und aus meiner Erfahrung sage ich, dass es eine Mischung geben muss aus Vorbereitung, Bevorratung und entsprechendem Bedarf, der kurzfristig gedeckt werden kann. Es können nicht für unendlich lange Zeit alle pharmazeutischen Produkte eingelagert und bevorratet werden. Das ist rein organisatorisch gar nicht möglich. Das heißt, ich muss abwägen, welche Arzneimittel oder Medizinprodukte tatsächlich wichtig sind.
Hoffmann: Aus Sicht der Bundeswehr sind das Arzneimittel im Bereich Antibiotika, Analgetika, Infusionen, Arzneimittel zur Abwehr von ABC-Bedrohungen und Blutprodukte. Das sind Bereiche, bei denen wir tatsächlich einen kritischen Bedarf haben werden und die wir im Auge behalten. Wir besprechen in Abstimmung mit dem pharmazeutischen System in Deutschland, also mit den pharmazeutischen Herstellern, den Pharmagroßhändlern und den Apothekern, wie dahingehend die Versorgung aufrechterhalten werden kann.
PZ: Dabei geht es auch um strategische Arzneimittelreserven. Wie werden diese derzeit geplant und verwaltet?
Hoffmann: Da kann ich Ihnen keinen tiefergehenden Einblick geben, weil das nicht in meiner Verantwortung liegt. Meine Verantwortung liegt in der Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten im Bereich der Streitkräfte, insofern kann ich nicht für andere Bereiche sprechen. Wir unternehmen entsprechende Anstrengungen, um uns besser vorzubereiten auf eine ausgeweitete Krise. Können wir noch mit den normalen Verfalldaten von Medikamenten arbeiten? Oder müssen wir wieder hin auf eine wirksamkeitsorientierte Haltbarkeit der Medikamente? Das sind Fragestellungen, mit denen wir uns auch auseinandersetzen.
PZ: Sind Sie dahingehend auch mit den Apotheken im Gespräch?
Hoffmann: Ja, das sind wir – auch mit den Vertretern des pharmazeutischen Berufsstands. Wir pflegen traditionell eine sehr enge Zusammenarbeit, unter anderem über meinen Leitenden Apotheker der Bundeswehr, der in einem permanenten Dialog mit den Vertretern der Standesorganisationen, Universitäten sowie den Fach- und Berufsverbänden der Apothekerschaft steht.
PZ: Manche Apotheker sind unsicher, ob sie selbstständig vorsorgen sollen für den Krisenfall, Stichwort Stromversorgung und autarke Wasserversorgung. Sollten sie aktiv werden oder das Gespräch mit Behörden suchen?
Hoffmann: Das ist eine echte Herausforderung, weil es ein dezentrales Verteilungssystem ist und im Prinzip jede Apotheke erst einmal für sich selbst verantwortlich ist. Das macht die zentrale Steuerung schwierig. Man wird sich sicherlich überlegen müssen, welche Empfehlungen insgesamt herausgegeben werden können und sollten, um die Apotheken krisensicher zu machen. Wir werden auch in einer Krise auf das Netz der Apotheken zwingend zurückgreifen müssen. Sie sind das Kernelement bei der Verteilung von Arzneimitteln und Medizinprodukten in Deutschland und ohne die funktionierenden Apotheken wird es in Deutschland nicht gehen.
PZ: Vielen Dank für das Gespräch.

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