Hochbegabung: Schnelligkeit im Kopf, Langsamkeit im System

Sybille Beyer spricht gern schnell. Sie liest zeitgleich drei bis vier Bücher, springt zwischen den Themen. Beim Fernsehen häkelt oder strickt sie parallel. Eine Naturdoku musste sie neulich aber ausschalten. „Der Moderator hat dermaßen langsam gesprochen“, erinnert sich Sybille Beyer. „Ich dachte, mir platzt gleich der Kopf.“ Das Hirn will beschäftigt werden. Sonst wandern die Gedanken.
Sybille Beyer weiß heute, dass sie hochbegabt ist – und ihr Gehirn besonders vernetzt. Nach der Lektüre eines Buches zum Thema kam ihr spät im Leben der Verdacht. Mit 53 Jahren traute sie sich, einen IQ-Test zu machen. Der bestätigte ihr, überdurchschnittlich intelligent zu sein. „Ich war so glücklich“, erinnert sich Beyer. „Nicht, weil ich besonders klug war. Sondern weil ich endlich wusste, warum ich es nicht schaffe, mich so anzupassen, dass ich nicht besonders auffalle.“
Schon als Schülerin fühlte sich Sybille Beyer fremd und anders. „Ich dachte, ich bin schuld daran“, erzählt sie rückblickend. Sie galt als Streberin, Besserwisserin. Konnte schreiben, bevor sie überhaupt eingeschult wurde. Aber als sie in der ersten Klasse wie alle anderen Kinder hundertfach einzelne Buchstaben schreiben üben sollte, weigerte sie sich, die Aufgabe zu erledigen. „Ich konnte es ja schon.“
Was macht es mit einem Menschen, spät im Leben zu erfahren, hochbegabt zu sein? Davon handelt auch ein im April 2025 erschienenes Buch: In "Plötzlich hochbegabt" erzählen 27 spät Erkannte ihre persönlichen Geschichten. 288 Seiten. Goldmann Verlag.
Da hörte sie zum ersten Mal, sie bringe die Sachen nicht richtig zu Ende. Dabei interessierte sie sich nur für sehr viele Themen. Man habe zwar erkannt, dass sie gut sei. Trotz Meldungen nahm man sie aber nicht dran im Unterricht. Sie wisse doch eh immer schon alles. ‘Glaubst du, du bist etwas Besseres?‘ – diesen Spruch hörte Sybille Beyer immer wieder. Dem Unterricht mit all seinen Routinen und Wiederholungen konnte sie nur parallel zeichnend folgen. „Meine Lehrer konnten das nicht verstehen“, erzählt die heute 60-Jährige. Konzentriere dich auf das, was gesagt wird, hieß es dann. Es fiel ihr leicht, den Lernstoff aufzunehmen. Lernstrategien eignete sie sich als unerkannte Hochbegabte aber keine an.

Sybille Beyer erfuhr erst spät von ihrer Hochbegabung.
Quelle: Privat
„Es ist tragisch, wenn eine Begabung falsch eingeschätzt wird”, sagt Tanja Gabriele Baudson. Die Professorin für Differentielle Psychologie an der Charlotte Fresenius Hochschule Wiesbaden weiß: Hochbegabung kann sich vielschichtiger äußern als gängige Klischees. Etwa das des frühen Wunderkindes, das schon mit drei Jahren perfekt Klavier spielt. Oder des intellektuellen Mathe-Genies. Viele Menschen entdeckten ihre hohe Intelligenz erst im späten Erwachsenenleben - und könnten ihre Potenziale in Schule und Berufsleben eben nicht richtig ausleben. Karriere im klassischen Sinne bleibe ihnen dann verwehrt.
Im Berufsleben eckte Sybille Beyer ebenfalls an. Mehrfach sei sie abgestraft worden. Weil sie den Status von Vorgesetzten ignorierte, untypische Lösungen für Probleme vorschlug, zwischen Themen hin und her sprang, besonders schnell dachte und sprach. Mit ihrem Verhalten sprengte sie Hierarchien, galt als menschlich schwierig - und wechselte schließlich den Job unfreiwillig immer wieder.
Um das Passende zu finden, machte sie drei Ausbildungen: zur Journalistin, zur EDV-Kauffrau, zur Tischlerin. Sie verinnerlichte: So wie ich bin, bin ich falsch. „Die Hochbegabung an sich ist etwas Feines“, sagt Beyer heute. „Aber die Reaktion der Umwelt ist oft problematisch.“ Sie habe sich oft schuldig gefühlt, sei mehrfach durch depressive Phasen gegangen.
„Die Vorstellung, Hochbegabte bekommen alles allein hin, eben weil sie so schlau sind, das stimmt nicht“, sagt Psychologie-Professorin Baudson, die speziell zu Intelligenz und Begabung forscht. Die auch als Vorstandsmitglied des Hochbegabtenvereins „Mensa” unter anderem für das Ressort Wissenschaft und Forschung zuständig ist.
Rund zwei Prozent der Menschen in Deutschland sind Schätzungen zufolge überdurchschnittlich intelligent. Eindeutige wissenschaftliche Definitionen von Hochbegabung gibt es nicht, sie variieren auch je nach kulturellem Kontext. Der Intelligenzquotient (IQ) diene aber als geeigneter Indikator, um kognitive Fähigkeiten einschätzen zu können, erklärt Baudson. Ab einem IQ von 130 und höher spreche man hierzulande von einer Hochbegabung.
Einen normierten, wissenschaftlich fundierten IQ-Test bietet unter anderem der Hochbegabten-Verein "Mensa" - für über 14-Jährige. Er findet regelmäßig vor Ort in verschiedenen Städten statt, dauert zwei Stunden und kostet 60 Euro. Darin werden verschiedene Bereiche der Intelligenz, unter anderem Sprach- und Zahlenkompetenz, Gedächtnisleistung und räumliches Vorstellungsvermögen geprüft. Für unter 14-Jährige ist ein Einzeltest notwendig. Der kann in niedergelassenen psychologischen Praxen durchgeführt werden. Auch Erwachsene können sich bei einem Verdacht psychologisch beraten lassen.
Wieso manche eine höhere Intelligenz haben als andere? Vollends verstanden haben Forschende das bislang nicht. Das Gehirn arbeitet effizienter, es gibt weniger Störfaktoren, wenn Informationen fließen. Schätzungen gingen davon aus, dass rund 50 bis 70 Prozent des Intelligenz-Spektrums vererbt werden. Wie sich das Potenzial dann im Laufe des Lebens entfaltet, hänge aber stark von der Umgebung ab, erklärt Baudson. Und ebendiese werde Hochbegabten oft nicht gerecht.
Die Forschung zeige durchaus: Klassen überspringen, überdurchschnittlich intelligente Kinder frühzeitig einschulen, zusätzliche Vertiefungskurse anbieten, mit anderen Hochbegabten zusammen lernen - das könne sich mitunter positiv auf die Leistung auswirken. „Unter ähnlich Intelligenten sein hat auch einen Effekt auf das emotional-soziale Wohlbefinden“, sagt Baudson. Gerade im Jugendalter sei das wichtig, wenn sich die Persönlichkeit besonders entwickelt.
Tanja Gabriele Baudson
Psychologin
Auch in Arbeitskontexten sollte Hochbegabung selbstverständlich Teil des Diversity-Managements sein, fordert Baudson. Arbeitsplätze sollten beispielsweise so gestaltet werden, wie Mitarbeitende das brauchen, um kreativ werden zu können. Um sich in ein Thema vertiefen zu können. Ein Großraumbüro? Das sei da beispielsweise oft ungeeignet. Die Förderung von Hochbegabten in der Schule und in Unternehmen sei aber momentan eher die Ausnahme. „In der aktuellen Inklusionsdebatte wird stärker auf Defizite eingegangen, während Hochbegabung immer noch als eine Art Luxusproblem gesehen wird“, kritisiert Baudson.
Als Sibylle Beyer zur Schule ging, Anfang der 1970er, sei die Thematik „Hochbegabung“ in der Pädagogik noch kaum beachtet worden. Sie hätte gern früher gewusst, wieso sie durchs Raster fällt. Heute strebt Sybille Beyer keine großen beruflichen Veränderungen mehr an. „Aber ich lebe mein Leben jetzt etwas fröhlicher.“ Historische Recherchen, Nähen für Geschichtsdarstellungen: Ein Zweitjob als Museumsführerin passe momentan ganz gut. Zudem engagiere sie sich als Sprecherin im Verein für Hochbegabte, der Austausch mit Gleichgesinnten tue gut. Zu wissen, nicht die Einzige zu sein, deren Potenzial ungenutzt blieb, das sei befreiend.
rnd