Demenz: Neue Ansätze zur Früherkennung – KI und Apps im Fokus

Bin ich nur vergesslich? Oder sind das schon Anzeichen einer Demenz? Wer sich das fragt, sollte auf gar keinen Fall online einen Demenztest durchführen, mahnt Anne Pfitzer-Bilsing. Sie ist Leiterin der Abteilung Wissenschaft der Alzheimer Forschung Initiative. Es gibt zahlreiche Tests im Internet, mit denen Nutzerinnen und Nutzer angeblich innerhalb weniger Minuten mögliche Symptome einer Demenz feststellen können.
Doch diese Tests seien keinesfalls valide, klärt die Expertin auf. Sie könnten Nutzerinnen und Nutzer im schlechtesten Fall entweder falsche Sorgen bereiten oder sie in einer falschen Sicherheit wiegen. „Wenn man sich Sorgen macht, dass man an einer Demenz erkrankt sein könnte, ist es wichtig, so schnell wie möglich zum Arzt zu gehen und das abklären zu lassen“, rät Pfitzer-Bilsing.

Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie – jeden zweiten Donnerstag.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Ärztinnen und Ärzte haben verschiedene sogenannte psychometrische Tests zur Auswahl, mit denen sie eine Demenzerkrankung diagnostizieren können.
„Es ist die Entscheidung der behandelnden Ärztin oder des behandelnden Arztes, welcher Test am besten durchgeführt wird oder ob verschiedene Tests durchgeführt werden“, sagt Pfitzer-Bilsing. Einer der am häufigsten verwendeten psychometrischen Tests ist der Uhrentest. Er sei gut, weil er verschiedene kognitive Aufgaben kombiniere: Eine Form (in dem Fall einen Kreis) malen, Zahlen schreiben und diese richtig anordnen.
Allerdings ist der Uhrentest, wie viele andere Demenztests, schon älter. In Zeiten digitaler Uhren, die gar kein Ziffernblatt und keine Zeiger mehr haben, könne es durchaus eines Tages passieren, dass der Test unbrauchbar wird, so die Alzheimer-Expertin. „Man kann jetzt schon bei jüngeren Menschen beobachten, dass einige die klassische analoge Uhr gar nicht mehr lesen können.“
Ein Problem bei den derzeit genutzten Demenztests sei zudem, dass sie „nicht entwickelt wurden, um eine leichte kognitive Beeinträchtigung (MCI), sondern vielmehr eine Demenz zu erkennen“, sagt David Berron. Er leitet die Arbeitsgruppe „Klinische Kognitive Neurowissenschaften“ am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). MCI steht für Mild Cognitive Impairment – eine Stufe zwischen dem normalen geistigen Abbau im Alter und einer Demenz.
„Es ist wichtig, MCI früh zu identifizieren, da Menschen mit MCI ein erhöhtes Risiko für Demenz haben“, sagt Berron. „Zudem werden neuartige Medikamente verfügbar sein, die bei frühzeitiger Behandlung, zumindest im Fall einer zugrundeliegenden Alzheimer-Erkrankung, den Krankheitsverlauf verzögern können.“
Der Neurowissenschaftler spielt zum Beispiel auf das Medikament Lecanemab an, das im April von der EU-Kommission zur Alzheimer-Therapie zugelassen wurde. Es ist ein Antikörper, der – vereinfacht gesagt – die für die Nervenzellen schädlichen Proteinablagerungen im Gehirn bekämpft.
Das Arzneimittel ist für Patientinnen und Patienten in einem frühen Alzheimer-Stadium vorgesehen. Um solche Mittel anwenden zu können, wäre es hilfreich, dass Tests die Erkrankung so früh wie möglich erkennen. „Aktuell werden in der medizinischen Versorgung weniger als zehn Prozent der Patientinnen und Patienten mit MCI erkannt“, sagt der Experte.

Immer mehr Menschen könnten in Zukunft an Alzheimer erkranken. Eine Heilung gibt es bisher nicht, aber die EU-Kommission hat jetzt ein neues Medikament zugelassen. Welche Chancen der Wirkstoff Lecanemab bietet – und wo seine Grenzen liegen.
Das Gute an den Demenztests sei: „Diese Diagnostik-Tools sind nicht in Stein gemeißelt“, sagt Pfitzer-Bilsing, „sondern es werden fortlaufend neue Tests entwickelt, die teils auch spezifischere Diagnosen erlauben.“ Zum Beispiel welche, mit denen sich eine Depression von einer Demenz unterscheiden lässt.
Denn nicht immer muss eine Demenz der Grund für kognitive Defizite sein. „Es kann auch sein, dass eine andere Krankheit zugrunde liegt, beispielsweise eine Vitaminmangelerscheinung oder ein Altershirndruck oder eben eine Depression“, sagt die Alzheimer-Expertin. So können reversible Demenzen entstehen, die behandelbar und oft sogar vollständig heilbar sind.
Gedächtnisveränderungen gehören zum normalen Alterungsprozess dazu. Mit zunehmendem Alter fällt es Menschen schwerer, sich an Namen zu erinnern, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun oder sich neue Informationen zu merken. Das macht sie aber noch nicht dement. Eine Demenz gehe weit über die normale Vergesslichkeit hinaus, erklärt Pfitzer-Bilsing. „Man ist noch nicht dement, nur weil man zum Beispiel mal einen Termin vergisst. Meist fällt einem das später wieder ein. Das ist bei Menschen mit Demenz anders: Ihnen wird nicht mehr einfallen, dass sie einen Termin gehabt haben, weil diese Verbindung im Gehirn, also diese Information, einfach weg ist.“ Bei einer Demenz gehen mit der Zeit auch andere kognitive Fähigkeiten verloren, etwa die Sprache oder Orientierung. Eine Demenz kann den Alltag massiv einschränken. Wer sich selbst Sorgen über Gedächtnisprobleme macht oder sie bei einem Familienmitglied oder Bekannten bemerkt, sollte einen Besuch beim Arzt oder bei einer Ärztin in Betracht ziehen. Diese können Betroffene gegebenenfalls an eine Gedächtnisambulanz oder eine neurologische Praxis mit Expertise im Bereich Demenz überweisen.
Einen neuen Ansatz zur Früherkennung entwickeln zurzeit Berron und sein Team, zusammen mit dem Magdeburger Start-up „neotiv“, das er mitgegründet hat. Es handelt sich dabei um eine Smartphone-App. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen sich zum Beispiel ein Bild einprägen, das nach kurzer Zeit durch die gleiche oder eine leicht veränderte Version ersetzt wird. Die Aufgabe ist nun, zu erkennen, ob und wenn ja, was sich verändert hat. Oder es erscheint ein Bild eines Raumes, ausgestattet mit verschiedenen Möbeln. Es verschwindet - die Nutzerinnen und Nutzer sollen zuordnen, welches Möbelstück wo stand.
„In unseren Studien hat sich gezeigt, dass diese Tests Hirnregionen und Netzwerke beanspruchen, die bereits früh von der Alzheimer-Erkrankung betroffen sind“, sagt Berron. Über mehrere Wochen sollen Patientinnen und Patienten die Tests durchführen. Der Grund dafür ist simpel: „Unsere kognitive Leistung ist variabel. Wenn ich als Nachteule bei der Hausärztin oder dem Hausarzt den Test um 7 Uhr morgens mache, ohne vorher einen Kaffee getrunken zu haben, kann er anders ausfallen, als wenn ich ihn mittags um 15 Uhr mache.“ Durch wiederholte Tests zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen fallen tagesformabhängige Schwankungen weniger ins Gewicht.
Weitere Vorteile bietet der Test per App: Er kann bequem zu Hause, in einem bekannten, ruhigen Umfeld durchgeführt werden. Die Ergebnisse werden an die Hausärztin oder den Hausarzt übermittelt, ohne dass die Patientinnen und Patienten regelmäßig in der Arztpraxis erscheinen müssen. Natürlich gebe es aber auch Herausforderungen, sagt Berron. Zu Hause gebe es einerseits möglicherweise mehr Ablenkungen als in einem Untersuchungszimmer. Zum anderen könnten Patientinnen und Patienten im Extremfall tricksen, zum Beispiel, indem jemand anderes den Test für sie durchführt.
„Unsere App wird nie den kompletten Diagnoseprozess ersetzen, aber sie wird Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosestellung unterstützen“, sagt Berron. Er berichtet von monatelangen Wartezeiten in den Fachkliniken und Gedächtnisambulanzen, die auf die Frühdiagnostik von Gedächtnisproblemen spezialisiert sind. Dorthin würden auch viele Patientinnen und Patienten überwiesen, die eigentlich keine Beratung benötigen.
Hier könnten Tools wie so eine App helfen. „Wenn wir in der hausärztlichen Versorgung ein Tool hätten, das kognitive Beeinträchtigungen frühzeitig und korrekt erkennt, kämen weniger Leute in die Gedächtnisambulanzen und in die spezialisierten Gedächtniskliniken“, so der DZNE-Forscher. „Dadurch hätten wir weniger Wartezeiten und die Ressourcen würden besser auf die Menschen aufgeteilt werden, die wirklich eine detaillierte Abklärung brauchen.“
Die App ist bereits als Medizinprodukt zugelassen, Ärztinnen und Ärzte können sie verschreiben. Jedoch ist die Kostenerstattung noch nicht geregelt. Dafür braucht es weitere Studien. Das heißt, bisher müssen Patientinnen und Patienten die Kosten für die App selbst tragen.
Auch in Ungarn arbeiten Forschende an einem neuen Tool zur Früherkennung: dem sogenannten Speech-Gap-Test. Er soll kognitive Defizite anhand der Sprache diagnostizieren. Eine Künstliche Intelligenz (KI), die mit den Stimmen älterer und dementer Menschen trainiert wurde, analysiert dafür die Sprechgeschwindigkeit, die Anzahl der Sprechpausen, eventuelles Zögern beim Sprechen und die Dauer dieses Zögerns.
Schon eine Sprachprobe von 60 Sekunden sei ausreichend, berichten die Forscherinnen und Forscher. Sie konnten in Studien zeigen, dass sich der Test sowohl mit ungarischer, englischer als auch deutscher Sprache eignet. Er soll keine direkte Diagnose stellen, sondern ein erstes Screening sein, anhand dessen Hausärztinnen und Hausärzte beurteilen können, welche Patientinnen und Patienten aufwendigere Demenztests benötigen.
KI sei bei der Demenzdiagnostik „auf jeden Fall ein Feld, das man nicht vernachlässigen sollte“, sagt Pfitzer-Bilsing. In Rostock testen Forschende zurzeit etwa eine KI, die demenztypische Veränderungen von Gehirnen auf MRT-Bildern feststellen soll. KI sei „ein weiteres Tool, um die Diagnostik zu verfeinern“, so die Alzheimer-Expertin. Ärztinnen und Ärzte, die Diagnosen bestätigen, seien aber weiterhin nötig. „Man sollte sich nicht vor der KI verschließen, sie ersetzt aber nicht den Besuch in einer ärztlichen Praxis.“
rnd